Die Signatur des Mörders - Roman
Großeinkauf zu machen. Beruhigt, es könnte noch nicht zu spät sein, ihr Leben zu ändern, nahm sie das Telefon und wählte die Nummer des Lieferservices, um ihre Lieblingspizza Margherita zu bestellen. Margherita. Ein schöner Name. Falls sie jemals eine Tochter bekommen sollte, würde sie diese so nennen.
Margherita. Sie sprach den Namen italienisch aus. Oder war es ein spanischer Name? Sie würde nachsehen.
War es ein Mädchen gewesen? Oder ein Junge? Sie hatte nie gewagt, darüber nachzudenken. Nicht als sie sich entschlossen hatte, zum Arzt zu gehen, nicht als sie auf diesem Stuhl gelegen hatte. Es gab Dinge, die ließen sich nur scheinbar leicht lösen. Früh genug, hatte der Arzt gesagt, nur ein kleiner Eingriff. Sie war alleine dorthin gegangen. Niemand wusste davon. Sie hatte nie darüber gesprochen. Es war zehn Jahre her, doch die Schuldgefühle quälten sie noch immer. Wem gegenüber sie Schuld empfand, war ihr nicht klar.
Ein kleiner Eingriff? Nein!
Man hatte ihr etwas Lebendiges aus dem Unterleib geschabt und dabei ein Stück von ihrem Herzen mitgenommen. Jetzt fehlte etwas. Sie wusste es. Hatte es all die Jahre gespürt. Keine Lügen mehr, beschloss sie.
Wenn du durch die Hölle kommst, dann gehe weiter. Das war es, worum es ging. In jedem Leben.
Myriam räumte auf. Nicht, dass sie damit jemals einen Zustand von Ordnung erreichte. Sie trug lediglich Gegenstände von einem Platz zum anderen. Den vollen Abfalleimer von der Küche in den Flur, irgendwann würde sie ihn mit in den Hinterhof nehmen.Vielleicht aber auch nie. Den Staubsauger ins Wohnzimmer, wo er liegen blieb. Sie würde tagelang darüber stolpern. Den Stapel Zeitungen nahm sie vom Wohnzimmertisch, um ihn auf den Küchentisch zu legen. Es war sinnlos.
Erschöpft legte sie sich auf das Sofa im Wohnzimmer und starrte in die Luft. Nicht einmal eine Lampe hing dort an der Decke. Bloß eine Glühbirne. Das bist du, dachte sie, eine verstaubte Glühbirne an einer kahlen Zimmerdecke, und nun fang an und mach was draus.
Sie musste unwillkürlich lachen. Okay. Was konnte sie tun? Sie legte die Hand auf ihren Bauch.
Es wurde dunkel im Zimmer. Sie sah die Gewitterwolken nicht, spürte sie nur. Ihre Dunkelheit, ihre geballte Wut, ihre Geschwindigkeit, mit der sie über den Himmel rasten, die Macht, die sie entfalteten, den Sturm, den sie brachten.
Sie fühlte sich unglaublich müde und hilflos, vor allem hilflos.
Sie fuhr in einem Boot auf dem Wasser. Es stürmte, die Wellen klatschten gegen die Bordwand. Sie war nicht allein. Ihre Mutter saß ihr gegenüber und ruderte verzweifelt gegen die Wellen an.
Sie konnte die Worte nicht wirklich verstehen, erkannte nur an den Mundbewegungen, wie sie lautlos um Hilfe rief.
Sie wollte ja helfen und wusste gleichzeitig, dass sie es nicht konnte, dass etwas sie daran hinderte.
Du musst rudern, schrie ihre Mutter, aber sie rührte sich nicht, starrte nur ohnmächtig auf ihre Hände. Ihre Hände? Sie waren verschwunden. Ihre Arme endeten in zwei blutigen leeren Stümpfen.
Dann die Erkenntnis: Das warst du selbst. Du hast dir die Hände abgehackt.
Schweißnass wachte Myriam auf und stellte fest, dass es in Strömen regnete. Hatte der Traum sie aus dem Schlaf geschreckt oder der laute Donner, der die Fensterscheiben zittern ließ, oder das Telefon? Mit einem Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass der Pizzadienst sie offenbar vergessen hatte.
Myriam wankte zum Telefon. Ab und zu musste sie sich an der Wand festhalten, weil sie sich schwindelig fühlte. Das Telefon hörte nicht auf zu klingeln. In der Wohnung war es düster. Draußen war noch immer leises Grollen zu hören, das Zittern des Windes.
Sie nahm das Gespräch entgegen. Zu spät dachte sie an den unbekannten Anrufer. Immer wieder verdrängte sie die Angst, er könnte sich wieder melden. Auch dafür muss es einen Grund geben, kam ihr der Gedanke. Irgendetwas habe ich ihm getan. Ich sollte darüber nachdenken, wer in Frage kommt, statt mich zu fürchten. Warum war die Angst einfacher zu ertragen als die Frage nach der eigenen Schuld?
»Ja«, sagte sie. Ihre Stimme klang unnatürlich rau, daher wiederholte sie noch einmal lauter: »Ja.«
»Myriam?« Es klang vertraut. Ihr Herz zog sich vor Erleichterung zusammen. Es war Henri. Sie warf einen Blick in den Spiegel. Ein Schritt gegen die Panik war, die Haare wieder wachsen zu lassen. Genau das würde sie tun. Heute würde sie damit beginnen.
»Was willst du?«
»Olivier ist
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