Die Signatur des Mörders - Roman
verschwunden.«
Myriam schwieg und überlegte, ob das irgendeine Bedeutung besaß. Paul Olivier war erwachsen. Er konnte tun und lassen, was er wollte.
»Wie kommt ihr darauf?«
»Er hatte heute einen wichtigen Termin in der Universität und ist nicht aufgetaucht. Das ist offenbar ungewöhnlich. Wir sind zu Milan Hus nachhause gefahren, wo Olivier seit Justin Brandenburgs Auszug wohnt. David sagte, Olivier hätte bereits die letzte Nacht nicht zuhause verbracht. Aber das ist nicht alles...«
»Was noch?«
»Dieser Antiquar aus Prag hat sich gemeldet. Es gibt ein drittes Manuskript.«
Myriams Herz klopfte stark. Es schlug bei jedem Atemzug hart gegen die Rippen, sodass sie deutlich die Schmerzen im Brustkorb fühlte.
»Ein drittes Manuskript?«
»Ja, mit dem Titel Der Richter.«
»Wovon handelt es?«
»Es wird ein weiteres Opfer geben.«
Stille.
»Bist du noch dran?«
»Lies vor!«
Henri räusperte sich und begann schließlich mit tiefer Stimme zu lesen:
»Es ist soweit«, sagte der Richter und blickte mit einem gewissen Bedauern zu dem jungen Mann vor der Tür. Dann lächelte er und sagte tröstend: »Aber glauben Sie mir, das Urteil zu fällen ist schwerer, als es zu vollstrecken.«
»Aber wie lautet es, hochverehrter Vorsitzender?«, fragte der Verurteilte höflich.
»Das ist ja das Geheimnis des Urteils. Daß man es erst versteht, wenn es vollzogen wird«, erklärte der Richter freundlich. »Aber ich verspreche Ihnen, es wird nicht lange dauern.«
»Wie wird es enden?«, fragte der Mann vorsichtig.
»Wie alles Leben endet. In der stillen Dunkelheit«, lachte der Richter aus vollem Herzen.
Henri brach ab.
Eine Weile sprachen beide kein Wort. Sie hörte den Donner, der wieder lauter und anhaltender geworden war. Als krachte etwas zusammen.
»Ist das der ganze Text?«, fragte Myriam.
»Nein.«
»Was meint der Antiquar?«
»Jemand kopiert Kafka, und gar nicht mal schlecht.« Henri machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Nur etwas daran ist neu.«
Myriam war alarmiert. »Was?«
»Für diesen Text existiert offenbar keine Vorlage von Kafka. Keine seiner Erzählungen hat einen ähnlichen Inhalt. Und keine trägt den Titel Der Richter.«
»Hat das eine Bedeutung?«
»Ich weiß nicht.«
Und du meinst, Paul Olivier könnte das nächste Opfer sein?«
»Wer sonst?«, gab Henri zurück. »Hast du eine bessere Idee?«
»Gibt der Text irgendwelche Hinweise auf die Pläne des Täters?«
»Wir haben das Manuskript Hannah, einigen Dozenten des Germanistischen Institutes und Filip Cerny gegeben. Sie beschäftigen sich jetzt intensiv damit. Vielleicht finden sie Hinweise, die uns weiterhelfen.«
»Ich brauche sofort den Text«, sagte Myriam.
»Ja, natürlich, ich bringe ihn dir vorbei.«
Myriam legte auf. Der Wind schlug heftig gegen die Fenster.
Sie wusste nicht, was größere Beklemmung auslöste. Die Tatsache, dass wahrscheinlich ein weiterer Mord geplant war. Oder Henris Besuch zu dieser Uhrzeit.
Sie spürte, wie sehr sie Henri vermisst hatte, sobald sie ihm gegenüberstand. Er musterte sie mit seinem trägen, vielsagenden Lächeln, als wüsste er ein Geheimnis über sie, von dem sie selbst keine Ahnung hatte.
Okay, dachte sie, du hast recht behalten. Vielleicht war dieses Ultimatum genau richtig gewesen, um mir das begreiflich zu machen. Genau dasselbe, erkannte sie an seinem Blick, wollte er von ihr hören. Aber sie würde es ihm nicht sagen, aus dem einzigen Grund, weil sie sich nicht erpressen ließ.
»Komm rein«, sagte sie und wandte sich rasch um. Er folgte dicht hinter ihr in Richtung Küche. Am liebsten hätte sie ihn gebeten, einen Sicherheitsabstand einzuhalten.
»Möchtest du etwas trinken?«
Er nickte.
»Wein?«
»In Ordnung.«
Sie holte zwei Gläser aus dem Schrank und den Rotwein aus dem Kühlschrank, den er selbst irgendwann mitgebracht hatte. Eines davon reichte sie Henri, der seine vom Regen triefende Jacke abstreifte und über den Stuhl hängte. Auch sein Haar war klatschnass.
»Ich hole dir ein Handtuch.«
»Nein, lass …«
Doch sie war bereits draußen.
Als sie in die Küche zurückkam, hatte Henri den Wein geöffnet und war dabei, die Gläser zu füllen. Sie reichte ihm das Handtuch und beobachtete ihn, wie er seine Haare trocknete. Sie hätte es gerne selbst getan. Stattdessen setzte sie sich und sagte unvermutet: »Ich werde die Entlassung von Hus vorbereiten.«
»Mit welcher Begründung?«
»Seine Verhaftung war ein Fehler. Es war einfach zu
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