Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
mehr nach den Regeln meines Glaubens, und es hatte mir am Schluss kaum mehr etwas ausgemacht. Das Versteckspiel war mir so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich beinahe vergessen hatte, wie es war, jüdisch zu sein. Aber jetzt, jetzt fiel mir alles wieder ein, stieg in mir hoch wie ein Fisch an die Wasseroberfläche. Und mir wurde bewusst, dass ich das Alte nicht mit Neuem ersetzt hatte. Ich lebte nicht nach neuen Überzeugungen, hatte keine jüdischen Gebote gegen christliche ausgetauscht. Nicht einmal mit der christlichen Zeitrechnung kam ich zurecht. Auch die Lebenseinteilung der Christen war mir fremd geblieben: Morgen-, Mittags- und Abendmesse, Sonntage, die unzähligen Feiertage der vielen Heiligen, die ich nicht kannte, Weihnachten und Neujahr, Ostern und Pfingsten. Die Tatsache, dass der Tag für sie mit Sonnenaufgang begann und nicht mit Sonnenuntergang. Viele Bräuche hatte ich zwar kennengelernt, aber sie bedeuteten mir nichts. Ich lebte nicht mehr in der alten Welt, und ich lebte eigentlich nicht in der neuen. Ich war nirgends zu Hause. Dies alles hatte ich nicht wahrhaben wollen, hatte nur in seltenen Augenblicken darüber nachgedacht.
Und dann war da Ciaran. Ciaran, in den ich immer noch verliebt war, mit dem ich meine Nächte teilte. Ciaran, der sich in letzter Zeit verändert hatte, seit er sich so oft mit diesen irischen Mönchen und Priestern traf. Bis vor einigen Wochen war seine Religion nur an seinem unbeschnittenen Glied für mich sichtbar geworden. Wir hatten nie über Glaubensdinge gesprochen, ich hatte ihn nie beten sehen, außer damals, als wir in dieser Marienkirche am Rhein gewesen waren. Nun hatte er ganz offenbar seinen Glauben wiederentdeckt, und das machte mir große Sorgen. Wenn ich schon zu Anfang nicht gewagt hatte, ihm die Wahrheit zu sagen, wie sollte ich es jetzt noch tun können? Aber wenn ich meine Familie wiederfand, dann musste ich ihm doch alles offenbaren. Und dann, diese Angst drückte mir das Herz ab, ja dann würde ich ihn vielleicht verlieren.
Den ganzen Tag verließ ich meinen Wagen nicht; ich schickte alle Patienten weg. Ich überlegte tatsächlich, ob ich überhaupt nach Würzburg gehen sollte, oder ob es nicht besser war, alles beim Alten zu lassen. Es war furchtbar, aber ich ahnte, dass ich eine Entscheidung treffen müsste. Eine Entscheidung zwischen Ciaran und meiner Familie. Es fiel mir schwer, so unendlich schwer.
Abends kam Ciaran zu mir und wollte mich zum Essen holen. Es war beinahe unerträglich, ihn so gut gelaunt und arglos zu sehen. Ich konnte nicht mit ihm reden, und essen konnte ich schon gar nicht. Also schützte ich Übelkeit vor und sagte ihm, ich wolle zu Bett gehen.
Spätnachts legte er sich dann zu mir, und ich tat so, als ob ich schon schliefe. Er schmiegte sich an meinen Rücken, legte den Arm um mich und küsste mich zärtlich auf die Wange. »Wie geht’s dir?«, fragte er leise.
Ich tat, als sei ich schlaftrunken, murmelte: »Besser«, und kuschelte mich an ihn. Ich liebte ihn so, und ich kam mir vor wie der niedrigste Verräter. In diesem Augenblick war ich schon halb entschlossen, meine Familie zu vergessen und mein Leben einfach weiterzuleben. Er strich mir übers Haar und wünschte mir gute Nacht.
Müde zog ich die Decke bis ans Kinn und murmelte wie selbstverständlich: »Leila tow.«
Himmel! Ich war mit einem Schlag hellwach und mir wurde gleichzeitig heiß und kalt.
Er bewegte sich und murmelte schläfrig: »Hmm?«
»Ach nichts«, sagte ich feige. »Schlaf gut.«
Und da wusste ich, dass es nicht ging. Ich konnte nicht mein Leben lang Versteck spielen. Und während Ciaran neben mir einschlief, fasste ich einen Entschluss: Ich würde nach Würzburg gehen, allein. Fand ich dort tatsächlich meine Familie, dann würde ich zurückkommen und ihm alles sagen. Dann läge die Entscheidung bei ihm. O Adonai, betete ich, bitte mach, dass er mich genug liebt, um bei mir zu bleiben!
Am nächsten Morgen saßen wir alle um die Feuerstelle und löffelten Graupensuppe. Die Stimmung war gedrückt, Schnucks Tod machte uns traurig. Jetzt schon fehlten uns seine Fröhlichkeit, sein ständiges Gezappel und seine dummen Fragen.
Ich suchte lang nach den richtigen Worten, aber irgendwann gab ich es auf. »Ich habe gestern Nachricht bekommen über meine Familie«, sagte ich unvermittelt. »Ein Kaufmann hat erzählt, sie seien zu Würzburg. Ich bin mir nicht sicher, ob es stimmt, aber ich muss dahin.«
»Deshalb warst du gestern Abend
Weitere Kostenlose Bücher