Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
ehrlicher Mensch. »Nun, Herr Abt, Ihr wisst vielleicht, dass in England eine religiöse Bewegung immer mehr Zulauf erhält, die, gelinde gesagt, kirchenfeindliches Gedankengut verbreitet. Sie nennen sich Lollarden und berufen sich auf einen Mann, dessen Ideen auf einer Synode in Oxford bereits als ketzerisch verurteilt wurden: John Wyclif.«
Father Padraig wusste natürlich Bescheid. Wyclifs Fall hatte damals viel Aufsehen erregt; seine Thesen von der Besitzlosigkeit der Kirche, seine Ablehnung des Papsttums, der Heiligenverehrung und des Priesterzölibats attackierten den katholischen Glauben in seinem Kern. Und nicht nur die heilige Kirche, auch der Staat war durch diese neuen Ideen gefährdet – der große Bauernaufstand des Jahres 1381 hatte sich maßgeblich auf Wyclifs Lehre berufen. Dass er immer noch viele Anhänger in England besaß, war bekannt. Aber was sollte der junge Ciaran damit zu tun haben?
»Der Erzketzer Wyclif«, fuhr Sir Latimer fort, »hat in seiner Sterbestunde ein Manifest verfasst und einem seiner Anhänger anvertraut. Dieser Mann ist später, sagen wir, gestorben, und die Schrift seither verschollen. Für die Lollarden ist dieses Vermächtnis aber von großer Bedeutung; sie sind unbeirrt auf der Suche danach. Es muss unbedingt verhindert werden, dass die Häretiker das Schriftstück finden, den Inhalt öffentlich machen und damit noch mehr Zulauf bekommen.«
Der Abt runzelte die Stirn. »Was könnte Euch dieses Findelkind dabei helfen?«
»Der Mann, dem Wyclif seinen letzten Willen anvertraut hat, Herr Abt, war der Vater dieses Findelkinds. Ein Landadeliger aus Leicestershire, der Name spielt keine Rolle. Man hat den Jungen damals aus christlicher Nächstenliebe verschont und ihn hierhergebracht, um ihn im rechten Glauben zu erziehen. Inzwischen wissen wir aber, dass der Schlüssel zum geheimen Aufbewahrungsort des Manuskripts etwas mit diesem Jungen zu tun hat.«
»Aber wie sollte er etwas darüber wissen! Er war ja kaum ein Jahr alt, als er hierherkam.« Father Padraig schüttelte den Kopf.
Der Leibwächter meldete sich zu Wort. »Ich selber habe das Kind damals an der Pforte abgelegt. Vielleicht war etwas an ihm, was niemand bemerkt hat, wir können es nicht sagen. Aber – vielleicht weiß er es ja. Oder eine Untersuchung seines Körpers bringt es an den Tag.«
»Warum sucht man denn erst jetzt nach ihm?«, wollte der Abt wissen.
Sir Latimer lächelte. »Seit unser geliebter König Henry den Thron bestiegen hat, der, wie alle Welt weiß, ein treuer Anhänger des wahren Glaubens ist, werden die Lollarden mit größerer Härte verfolgt. Das dürfte wohl auch Euch freuen, Herr Abt, schließlich ist es auch Eure Kirche, die man niederreißen will! Unter, nennen wir es einmal ›strenger Befragung‹, haben wir nun glaubhafte Aussagen von verhafteten Lollarden, dass nur über dieses Kind das Versteck des Wyclifschen Vermächtnisses herausgefunden werden kann. Glücklicherweise haben die Ketzer aber bisher keine Ahnung davon, wo sich das Kind aufhält, bis vor kurzem wussten sie nicht einmal, dass es überhaupt am Leben ist. Wir jedoch haben es nun in der Hand, das Geheimnis zu lüften und das ketzerische Machwerk Wyclifs zu finden und zu vernichten. Und das wollen wir auch tun.«
Father Padraigs Hände zitterten leicht, während er überlegte. Was, wenn der junge Ciaran nichts wusste? Verstohlen blickte er den Leibwächter an, dessen Hand den Griff seines Schwerts streichelte. Und plötzlich wurde ihm klar, dass sein Schützling in höchster Gefahr schwebte. Wenn er der einzige Schlüssel zu Wyclifs Vermächtnis war und die Mission der beiden Männer erfolglos bleiben sollte, dann gab es nur noch eine Möglichkeit, ein für alle Mal zu verhindern, dass die Lollarden an die Schrift gelangten: Sie mussten Ciaran töten. Der Abt sah nachdenklich auf das Schwert des Leibwächters und fasste einen Entschluss: Auch auf die Gefahr hin, dass eine bisher unbekannte Schrift dieses Ketzers Wyclif irgendwann wieder auftauchen mochte – er, Padraig, wollte in der Hölle schmoren, wenn er eines seiner Schäflein irgendwelchen englischen Mördern preisgab.
»Also, können wir nun mit dem jungen Mann sprechen?« Sir Latimers Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er schob die Unterlippe vor und sah dem Engländer ins Gesicht. »Ich fürchte, das könnt Ihr nicht«, sagte er in bedauerndem Tonfall.
»Und warum nicht?« Latimers Augen verengten sich.
»Weil dieser junge Mann durch Gottes
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