Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
eine Zeit zum Bauen und eine zum Niederreißen,
eine Zeit zum Weinen und eine zum Lachen,
eine Zeit für die Klage und eine für den Tanz,
eine Zeit zum Steinewerfen und eine zum Steinesammeln,
eine Zeit zum Umarmen und eine, die Umarmung zu lösen,
eine Zeit zum Suchen und eine zum Verlieren,
eine Zeit zum Behalten und eine zum Wegwerfen,
eine Zeit zum Zerreißen und eine zum Zusammennähen,
eine Zeit zum Schweigen und eine zum Reden,
eine Zeit zum Lieben und eine zum Hassen,
eine Zeit für den Krieg und eine für den Frieden.
Und darunter hatte Salo mit eigener Hand geschrieben:
… eine Zeit zum Fortgehen und eine zum Nachhausekommen.
Bald sehen wir uns wieder!
Brief des Salomon ben Hirsch an Sara,
Frühling 1405, geschrieben auf Deutsch
mit hebräischen Buchstaben
Gottes Schutz und Schirm mit dir, meine treue, geliebte Braut, und meine Lieb darzu. Ich bete, daß du dich wohl und gesundt befinden mögest und deine Familie ebenso. Grade hab ich Toledo erreicht, eine herrliche Stadt auff dem Berge, wo Juden, Christen und Mauren leben. Alle Weisheit des Morgenlandes ist hier versammelt, und unzählige Gelehrte übersetzen Schriften aus aller Herren Länder. Du könntest Dinge lesen, wie sie vorher nie gehört wurden, so viel Neues lernen! Ich weiß es, du wärst glücklich hier! Mein neuer Rabbi, Don Juda ben Moses, ist ein noch junger Mann, doch unendlich klug und weitgereist. Er hat außer mir noch sieben Schüler, mit denen ich schon gute Freundschaft geschlossen habe. Ich fühle mich wohl in dieser Stadt wie vorher selten, auch weil hier nicht so große Hitze herrscht wie tiefer im Süden. Stets weht ein kühler Wind, und die Nächte sind, Adonai sei Dank, nicht zu heiß zum Schlafen.
Du wirst dich wundern, meine schöne Freundin, was ich alles zu erzählen habe, wenn ich heim nach Köln komme. Es gibt so viele andere Bräuche und Sitten im Lande Sepharad, so viel Wunderliches, das ich gesehen habe. Erst kürzlich habe ich einer Art Kampfspiel beigewohnt, das sie hier Suerte de Canyas nennen. Weißt du noch, meine kleine Sara, wie wir uns einmal über den Stierkult auf der Insel Kreta unterhalten haben? Da saßen wir unter dem Kirschbaum im Garten der Synagoge, es war Sommer, und die reifen Früchte hingen über unsren Köpfen, dass wir nur aufstehen mußten, um sie zu pflücken und in den Mund zu stecken. Du hast dich gewundert, daß Menschen es wagen, über die Hörner eines Stiers zu springen. Fast so wie in Kreta vor vielen Hunderten von Jahren ist es auch hier im Land. Manche Männer vom Adel tun es den Stierspringern ähnlich – nur dass sie dem armen Tier nicht mit heiliger Ehrfurcht begegnen, sondern seine Schönheit mit ihrem Gehabe gleichsam bespucken. Ich habe es gesehen. Viele Leute kamen wie ich, um zuzuschauen, alle fein herausgeputzt wie für ein großes Fest. In einen runden, gut eingezäunten Platz wurde dann der Stier getrieben, herrlich stark, schwarz, voller Saft und Kraft. Ihm stellten sich erst einmal junge Burschen auf Pferden gegenüber; sie reizten ihn, ritten gegen ihn an, machten ihn mit allen Mitteln wütend. Und dann rammten sie ihm dünne Spieße in den Nacken, bis ihm das Blut in Strömen über die Schenkel rann. Das sollte den Stier schwächen. Denn nun ritt ein Mann auf den Sandplatz, den nennt man Toreador. Er hatte ein Gehabe als sei er ein großer Herr, trabte umher und zeigte sich wie ein Pfau und tat in allem so, als sei er der schönste, tapferste und beste aller Kämpfer, die je auf dieser Welt geboren wurden. Den Stier machte er verächtlich, er ließ das Ross auf ihn zutänzeln, schimpfte ihn eine langsame Schnecke, einen faulen Ochsen, ein dummes Vieh. Der Stier, dieses edle, kraftvolle Tier, wollte nur seine Ruhe. Ich sah, dass er Schmerzen hatte, er blutete und war müde. Aber immer wieder lästerte ihm der Toreador, jagte ihn umher und reizte ihn mit einem bunten Tuch so, dass er wieder und wieder angriff. Am Ende, als der Stier völlig erschöpft war und nur noch keuchend dastand, stieg der tapfere Kämpfer ab und rammte ihm endlich sein Schwert ins Herz. Ein großer Held, fürwahr! Dem Stier schoss ein Blutstrahl aus dem Maul. Er brach zusammen, ein elender Anblick. Doch die Menge jubelte und schrie, Weiber warfen dem Toreador Blumen zu. Jemand schnitt dem Stier beide Ohren ab und schenkte sie dem adeligen Stierkämpfer. Der warf die blutigen Stücke seiner Lieblingsdame zu und stolzierte dann hinaus. Das tote Tier band man an zwei Esel, die den
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