Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
massigen, staubigen Leichnam würdelos vom Platz zogen. Mir erschien dies alles grausam und widerlich, und auch dir, meine süße Sara, hätte das alles nicht gefallen, aber für die Spanier ist es die schönste Unterhaltung.
Was dir gefallen hätte, das weiß ich, sind Musik und Tanz, die hier allgegenwärtig sind. Man singt traurige Lieder, so voll Schwermut, dass einem davon zum Weinen wird, aber auch fröhliche Stücke, schnell und mit viel Getrommel und Geklapper. Da möchte einer sich dazu drehen und herumwirbeln, so geht einem der Takt ins Blut. Die Weiber tanzen stolz und aufrecht, als gehöre ihnen die Welt, und die Männer stampfen und springen mit hochmütiger Miene. Glaube mir, das ist nicht so brav und langweilig wie ein Reigen bei uns daheim in Köln.
Mit meiner Gesundheit geht es wieder besser. Inzwischen kennt mein Magen wohl endlich die sephardischen Speisen und hat sich auch an das viele Baumöl gewöhnt. Das Fieber ist auch nicht wiedergekommen, und so bin ich getrost und wohlauf, trinke auch manchmal den schweren roten Wein, der mir recht mundet und mir auch gut zuträglich ist.
Rabbi Juda ist ein großer Gelehrter, und er teilt sein Wissen und seine Gedanken gern mit seinen Schülern. Jeden Tag hänge ich an seinen Lippen, von denen die Weisheit der Jahrhunderte wie Honig trieft. Kürzlich waren wir alle sehr betrübt, weil ein Jude in der Stadt aus Hass von Christen gesteinigt wurde. Uns sank der Mut, und wir fragten uns, ob es denn jemals für die Kinder Jisroels eine Heimat geben würde, in der niemand uns etwas anhaben könne. Da lächelte unser Rabbi und sprach: »Siehe, ich sage euch, es gibt einen Ort. Einen Ort des Friedens, der Ruhe und des Glücks. Einen Ort, an dem sich ein Mensch geborgen und zu Hause fühlen kann. Jeder von euch kann diesen Ort finden, er muss nur suchen und nicht den Glauben daran aufgeben.« Wir fragten ihn, wie dieser Ort denn aussähe, und er sagte: »Dem einen ist es ein festes Haus, dem anderen ein schöner Garten. Dem dritten ein wehrhafter Turm, dem vierten ein weites, freies Feld. Für manchen ist der Ort eine sichere Zuflucht vor Angst und Verfolgung, für manchen eine strahlende Verheißung des Lebens und der Liebe. Jeder trägt ihn in sich, wie auch immer er beschaffen sein mag.« Ich dachte lange über diese Worte nach, meine Sara. Wie würde mein Ort wohl aussehen? Schließlich stand mir das Bild einer herrlichen Burg vor Augen, mit Zinnen und Türmen, hoch auf einem Berg thronend. Mir träumte, ich stünde vor dieser Burg und blickte hinauf zu ihr, und sie war wie in gleißendes Strahlen getaucht, leuchtete silbern, als sei sie ganz aus Licht. Ach, meine Liebste, dort auf der Burg möchte ich mit dir leben, ohne Sorgen, glücklich, zufrieden und frei von aller Bedrohung. Glaubst du, dass diese Burg auch dein Ort sein könnte?
Mein liebes Herz, ich wünsche mir, dass du recht fleißig lernst und dich vorbereitest auf die Aufgaben, die dem Weib eines Rabbi zufallen. Du bist so klug und verständig, ich habe auf meinen Reisen nicht eine getroffen, die dir gleichkäme. Manches Mal, wenn ich Sehnsucht habe, spreche ich laut mir dir. Wenn mich einer dabei sehen könnte, dächte er bestimmt, ich sei närrisch. Aber, meine Seele, es kommt die Zeit, da wir uns wieder gegenüberstehen. Und dann verspreche ich dir, dass ich nicht mehr nur mit dir reden werde. Denn dann schließe ich dich als mein Weib in die Arme, du Schöne, Gute. Ich träume oft von diesem Augenblick, an dem du mir ganz gehören wirst, und ich dir.
Bis dahin sei gewiß der großen Liebe und Achtung deines dir auf ewig anversprochenen
Salo
Kloster Clonmacnoise, Sommer 1405
Father Padraig saß am Fenster seiner gemütlichen Schreibstube hinter dem Refektorium, einen mit aufwändigen Malereien dekorierten silberbeschlagenen Kodex vor sich. Um ein Initial am Kapitelanfang, ein großes F, schlangen sich lindgrüne Blütenranken, versetzt mit bunten, geometrischen Ornamenten und Figuren, die in glänzendem Blattgold aufgetragen waren. Phantastische Tiergestalten schlugen ihre scharfen Klauen in den Buchstaben, ein Drache spie rotgleißendes Feuer und bleckte dabei die Zähne, als ob er die ganze Szenerie verschlingen wollte. Die Farben waren frisch und leuchtend, die Schrift perfekt gezirkelt: Ein vollendetes Ergebnis der klösterlich-irischen Buchkunst, wie sie in Clonmacnoise seit Jahrhunderten gepflegt wurde. Der Abt hielt das schwere Buch möglichst weit von sich weg und kniff beim Betrachten
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