Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
und auch der Rabbi war bereits da. Der Form halber zählte er die männlichen Anwesenden durch, denn es mussten mindestens zehn sein, um einen Gottesdienst abhalten zu können.
Dann holte der alte Jossel das Buch Esther herbei, eine dicke Rolle, die in einer Ummantelung aus Samt mit Fransen und Borten steckte. Mit einer kleinen Verbeugung überreichte er die Schrift dem Pfandleiher Samson Männlein, der das Amt des Vorlesers innehatte. Der entrollte die Schrift vorsichtig und begann, mit tönender Stimme, in einer Art feierlichem Singsang, die Geschichte der Esther vorzulesen. Bei jeder Erwähnung des Bösewichts Haman war es den Kindern erlaubt, zu trampeln, zu buhen und zu zischen, und das taten sie mit voller Inbrunst so laut sie konnten. Manche hatten sogar Rasseln dabei, die einen ohrenbetäubenden Lärm machten. Es war ein Heidenspaß, und auch einige Erwachsene taten sich dabei hervor. An manchen Stellen musste selbst der Vorleser mit sich kämpfen, um nicht vor Vergnügen zu glucksen.
Am lautesten schrie natürlich wie immer Jochebed; Sara und ihre Eltern hatten Mühe, sie nach dem Gottesdienst wieder ruhig zu bekommen. Später auf der Straße setzten die kleineren Kinder Masken auf, tanzten und sangen, und sogar Rabbi Meir, sonst ein ernsthafter Gelehrter, schloss sich übermütig dem allgemeinen Ringelreihen an. Dann gingen die Leute nach Hause. Viele hatten zum Festmahl Freunde gebeten, denn es war fast unmöglich, all die guten Sachen, die zuzubereiten guter Brauch war, alleine aufzuessen.
Sara und ihre Eltern waren bei Salos Familie eingeladen. Der Tisch bog sich unter all den Köstlichkeiten, die der reiche Haushalt des Geldverleihers bereithielt: Es gab Pasteten, heiße Kastanien, Täubchen und Wachteln, Törtchen und Fladen, Pfefferkuchen, Ragout vom Fasan und gebratene Hühner. Natürlich durften auch die »Ohren Hamans« nicht fehlen, kleine süße Mohnkuchen, die vor allem bei den Kindern beliebt waren. Und Wein, Unmengen von Wein. Eigentlich wurde das Trinken von Alkohol bei den Juden nicht gern gesehen, aber es war geradezu eine religiöse Vorschrift, sich wenigstens einmal im Jahr an Purim einen Schwips anzutrinken. Und wer wollte dieser angenehmen Pflicht nicht nachkommen?
Sara saß zwischen ihren Eltern, trank den gesüßten roten Wein in Maßen und beobachtete die Mitglieder von Salos Familie. Seine beiden Schwestern waren inzwischen verheiratet und hatten ihre Männer und drei kleine Kinder mitgebracht. Die eine war dicker denn je, genau wie ihr Mann, der mit Gewürzen aus dem Orient handelte. Mit geröteten Gesichtern schaufelten die beiden Essen in sich hinein. Die andere Schwester sah schlanker aus als sonst; sie hatte zwei schwere Schwangerschaften und Geburten hinter sich, das brauchte eine lange Erholungszeit. Gerade fütterte sie ihr Jüngstes mit kleinen Brocken vom Mohnkuchen, die sie in Wein einweichte. Alle waren bester Laune, und am fröhlichsten war Salos Bruder Chajim, was am Wein liegen mochte, denn sonst war er eher ein Griesgram. Sara mochte ihn immer noch nicht recht, auch wenn er ihr vor nicht einmal einem halben Jahr furchtbar leidgetan hatte, als seine Frau gestorben war. Die zarte Esther hatte die Geburt ihres ersten Kindes nicht überlebt, und das Kleine war im Mutterleib geblieben. Chajim war erschüttert gewesen und hatte sich zum Schiwe sitzen sieben Tage lang in seinem Haus eingeschlossen, was unüblich war. Doch dann war er wieder aufgetaucht, und niemand merkte ihm mehr an, was geschehen war. Natürlich hatte er Esther und dem Kind einen teuren Grabstein aufstellen lassen, aber man sah ihn nie auf den Friedhof gehen, um ein Steinchen darauf zu legen als Zeichen dafür, dass er an die Toten dachte. Er war schon ein merkwürdiger Mensch, dachte Sara, aber trotzdem lächelte sie ihrem zukünftigen Schwager zu und setzte den Becher an die Lippen, als er seinen Pokal grüßend hob.
Doch zum Trinken kam sie nicht mehr. Lautes Rumpeln war zu hören, dann wurde die Tür aufgerissen und drei Männer polterten in die Stube. Es waren Reisende mit staubigen Mänteln; ihre spitzen Judenhüte hatten oben einen messingnen Knauf. Am Tisch wurde es still. Was wollten diese Fremden wohl, und wie konnten sie einfach so in eine Feier platzen? Saras Blick wurde von einem der Reisenden wie magisch angezogen. Er war groß und dünn, trug einen langen, dichten schwarzen Bart und gelockte Pe’ot fielen ihm von den Ohren fast bis auf die Schulter. Und dann schrie sie. Gleichzeitig
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