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Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)

Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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Augenlider flatterten, sie hob benommen die Hände, als wolle sie an die Wunde greifen. Ich hielt sie davon ab.
    »Schon vorbei, Grönla, schon vorbei«, beruhigte mein Onkel die Erwachende. »Es tut noch recht weh, aber gleich kommt ein schöner Verband drüber. Dann kannst du wieder heim.«
    Nachdem die Patientin abgeholt worden war, ließ Onkel Jehuda mich die Geschwulst noch einmal betasten. »Weich und nachgiebig, fast wie ein Gallert, spürst du das?«, fragte er.
    Ich fühlte und nickte. »Das heißt, es ist eine gutartige Wucherung, nicht wahr?«
    »Richtig. Sie ließ sich auch leicht von ihrer Umgebung lösen, ist nicht ins Fleisch hineingewachsen. Grönla wird wieder ganz geheilt sein, nur eine schlimme Narbe, die wird ihr bleiben.«
    »Und wenn die Wucherung bösartig ist?«
    Mein Onkel schürzte die Lippen. »Krebs, ja, das ist schlimm. Wenn du ihn tastest, wirst du finden, dass er viel fester und härter ist als das Gewebe, das du gerade vor dir hast. Aber du kannst ihn nicht immer entfernen. Wenn Krebs an einer Stelle ist, wo du ihn ganz ausschneiden kannst, etwa an der Mamma oder am Schenkel, dann soll man es versuchen. Besonders, wenn er noch klein ist, ein Knoten bis zur Nussgröße. Aber wenn er schon alt und groß ist, dann darfst du ihn nicht antasten. Ich selbst habe in diesem Stadium nie einen heilen können, und ich habe auch nie einen gesehen, der ihn geheilt hat.«
    »Aber wenn ich ihn operiere, mache ich es dann genauso wie grade eben?«
    Onkel Jehuda schüttelte den Kopf. »Du musst viel mehr von der Umgebung mit herausschneiden und sehr darauf achten, dass auch nicht der kleinste Rest zurückbleibt. Das Blut lasse dabei fließen und stille es nicht zu schnell. Dann glühe die Wunde aus, bis das Blut steht.«
    Ich öffnete das Fenster und warf die Geschwulst auf die Straße. Sofort stritten sich zwei streunende Hunde zähnefletschend um die Beute; schließlich schnappte sich ein dritter das blutige Gewebe und flitzte damit um die Ecke. Währenddessen hatte Onkel Jehuda ein dickes gebundenes Buch aus seiner Truhe geholt und auf den Arbeitstisch gelegt. Mit seinen knotigen Fingern klopfte er ein paar Mal auf den ledernen Wälzer. »Das, mein Mädchen, ist die ›Chirurgia‹, geschrieben von Frugardi. Darin sind enthalten die Weisheiten des großen Roger von Salerno, eines der besten Chirurgen, die je gelebt haben. Es ist ein Lehrbuch über die Grundlagen der Operationskunst, das aus Aufzeichnungen der Schüler des Meisters besteht, denn selber hat er nichts Schriftliches hinterlassen. Du wirst dieses Lehrbuch in den nächsten Monaten so oft lesen, bis du seinen Inhalt im Schlaf hersagen kannst.«
    »Bisher hast du immer gesagt, die echte Chirurgia sei noch zu schwierig für mich«, warf ich verblüfft ein.
    Er kratzte sich am Bart. »Hmm, hab ich das? Nun, weißt du, ich glaube, du wirst gar keine schlechte Chirurgin werden. Und, äh, um die Wahrheit zu sagen, du hast heute eine Ader unterbunden, die ich gar nicht gesehen habe.«
    Deshalb hatte er also die Augen zusammengekniffen. Ich verstand. Seine Sehkraft ließ nach. Es würde nicht mehr lange dauern, und er würde manche Operationen nicht mehr selbst durchführen können. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, das Onkel Jehuda ein alter Mann war. Und dass ich diejenige sein würde, die sein Werk fortsetzte, sein Wissen und Können weitertrug. »Ich werde mich bemühen, alles so gut wie möglich zu lernen«, versprach ich. »Du sollst einmal stolz auf mich sein.«

    Von dieser Zeit an führte ich alle Operationen unter Onkel Jehudas Anleitung selbst durch, vom Entfernen von Blasensteinen bis hin zur Öffnung eines Darmverschlusses und zur Amputation einer weiblichen Brust. Bei den schwereren Eingriffen starb die Hälfte der Patienten später, auch das lernte ich. Der schlimmste Feind hieß Wundfieber, und er war oft nicht zu besiegen. Aber dennoch: So vielen Menschen kann mit der Chirurgie geholfen werden, und der Erfolg ist meist schneller sichtbar als der einer Behandlung von Krankheiten mit Kräutern und Salben. ›Die Chirurgie ist die höchste Abteilung der heilenden Kunst, am wenigsten anfällig für Betrug, durchsichtig in sich selbst, voller Beweglichkeit in ihrer Anwendung, das würdige Produkt des Himmels, die sichere Quelle des Ansehens auf Erden‹ – dieser Satz aus einem von Onkel Jehudas Lehrbüchern prägte sich mir für immer ein. Die Arbeit mit dem Messer wurde meine Leidenschaft.
    Under der Linden
Walther von der

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