Die Silberne Festung
war. Es wirkte wie ein in der Wüsteneinsamkeit errichteter Wolkenkratzer. Einige hundert Meter von diesem Bau entfernt erhob sich zwischen Gittermasten ein gedrungenes, wenig elegantes Gebilde, das in gleißend helles Licht getaucht wurde: die völlig rekonstruierte Raumfähre Enterprise. Das Gebäude rechts daneben, das Ann als erstes gesehen hatte, war das neue Vandenburg Vehicle Assembly Building. In der Nähe des Zufahrtstors mit dem Wachgebäude entstand jetzt Bewegung, aber Ann achtete nicht darauf. Sie konzentrierte sich völlig auf das gedrungene Raumfahrzeug, das dort in der Ferne auf einer hohen Stahlbetonplattform stand.
Aus dieser Entfernung wirkte es täuschend klein, doch von der Plattform oder vom Bedienungsturm aus wirkte die Raumfähre gigantisch. Auch in ihrem Inneren hatte Ann sich nie eingeengt oder von Platzangst bedroht gefühlt – bis zu diesem Augenblick. Aus der Ferne sah die Enterprise wie ein Spielzeugmodell aus.
Und sie würde sich in diesem Spielzeug anschnallen, damit irgend jemand 1850 Tonnen Fest- und Flüssigtreibstoff unter ihr entzünden und sie mit 25facher Schallgeschwindigkeit Hunderte von Kilometern hoch in den Weltraum schießen konnte… Hatte sie den Verstand verloren?
Noch verrückter war die Tatsache, daß es sie viel Mühe gekostet hatte, an Bord dieses Fahrzeugs zu kommen. Sie hatte arbeiten, sich bewerben, sich vorstellen, bitten, betteln und schmeicheln müssen, um überhaupt berücksichtigt zu werden. Und nach monatelangem Warten hatte sie sich einer halbjährigen Ausbildung mit theoretischem Unterricht, Übungen im Simulator und unzähligen Tests unterziehen müssen – nur um Hunderte von Kilometern über der Erde leben, wiederaufbereitete Luft atmen, bestrahlte Lebensmittel essen, künstlich hergestelltes Wasser trinken und die Auswirkungen der Schwerelosigkeit ertragen zu dürfen. Ann war von widerstreitenden Gefühlen so hin und her gerissen, daß sie den mit drei Wachsoldaten besetzten Jeep, der jetzt neben ihr hielt, gar nicht wahrnahm. Erst das aufgeregte Winseln des Dobermanns, den der ausgestiegene Hundeführer an kurzer Leine hielt, brachte sie in die Gegenwart zurück.
»Sie befinden sich in einem Sperrgebiet«, sagte der Uniformierte. Er hielt sein Sturmgewehr M-16 schußbereit, während er Ann mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete. »Ihren Ausweis. Schnell!«
Sie griff geistesabwesend in die rechte Brusttasche ihrer Fliegerkombi, um ihren Dienstausweis herauszuholen. Erst in diesem Augenblick erkannte der Wachposten sie.
»Dr. Page?« Er ließ sich den Ausweis geben, überflog die Eintragungen und gab ihn zurück. »Ich habe Ihr Bild in der Zeitung gesehen. Sie gehören zur heutigen Besatzung…«
»Richtig«, bestätigte sie und konnte nur hoffen, daß ihre Stimme weniger nervös klang, als ihr zumute war.
Der Streifenführer übergab die Hundeleine einem hinter ihm stehenden Soldaten und hängte sich das Gewehr über die rechte Schulter. »Sie sollten hier draußen nicht allein unterwegs sein…« Er machte eine kurze Pause und starrte Ann prüfend an. »Alles in Ordnung, Dr. Page?«
»Ja. Ich hab’s nur nicht mehr erwarten können, zur Startrampe zu kommen, deshalb bin ich einfach losgegangen…«
»Von Ihrer Unterkunft aus?«
»Ich… ich bin ein bißchen gejoggt. Alles ist so still und friedlich gewesen…«
»Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte der Uniformierte. »Wahrscheinlich war’s mir ähnlich ergangen, wenn ich mit dieser Wunderkerze fliegen sollte – Ich hätte vor dem Abschied einen letzten Blick auf die gute alte Mutter Erde werfen wollen… Okay, ich muß Sie ins Shuttle Flight Center bringen, Dr. Page. Hier draußen dürfen Sie nicht allein rumlaufen. Mich wundert’s, daß Sie nicht angehalten worden sind, als Sie den Unterkunftsbereich verlassen haben.«
Ann hörte kaum, was er sagte, so sehr war sie wieder mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Was machte ihr zu schaffen? Angst vor dem Tod?
Mit dem Tod war sie noch nie konfrontiert worden. Selbst während der Shuttle-Ausbildung mit all ihren Vorträgen und Einweisungen hatte sie nie ans Sterben gedacht. Außerdem war der Tod hier ein Tabuthema, das jedermann geflissentlich mied. Sie ging mit zum Jeep, stieg neben dem Streifenführer ein und quittierte seine Bemerkungen mit geistesabwesendem Nicken.
Nein, sie hatte keine Angst vor dem Sterben, verdammt noch mal! Sie wußte, daß der Tod überall lauerte, daß er jederzeit ohne Warnung zuschlagen konnte.
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