Die Silberne Festung
längst vergessener Jugendfreund gewesen. An einem Tag wie diesem hätte sie lieber an etwas anderes denken sollen.
Nach dem Duschen ließ Ann sich bewußt Zeit, trocknete sich langsam ab und bürstete ihr langes Haar. Trotzdem war sie eine Stunde vor der vorgesehenen Zeit fertig – und zwei Stunden, bevor das Taxi kommen sollte.
Sie zog dünne Baumwollunterwäsche mit langen Armen und Beinen, Sportsocken aus Baumwolle und ihre blaugraue NASA-Fliegerkombi an.
Dann band sie ihr Haar zu dem Pferdeschwanz zusammen, der ihr Markenzeichen war, und kämmte es noch zweimal, um die Zeit totzuschlagen.
Aber auch das half nicht viel. Noch immer eindreiviertel Stunden, bis das Taxi kam. Und der Fernseher blieb um drei Uhr morgens stumm.
Ann spürte, wie ihr Magen ihr wieder zuzusetzen begann… Zum Teufel mit der Warterei auf das Taxi! Sie schlüpfte in ihre schwarzen Fliegerstiefel, ließ den Zimmerschlüssel auf dem Bett liegen, machte das Licht aus und zog die Tür hinter sich zu.
In der Eingangshalle des Gästehauses der Vandenburg Air Force Base mußte sie zweimal hüsteln, um die Angestellte an der Rezeption auf sich aufmerksam zu machen. »Können Sie mir einen Wagen bestellen, der mich zum Shuttle Flight Center bringt?«
Die Angestellte starrte die junge Frau in der NASA-Fliegerkombi mit großen Augen an, denn obwohl jetzt jeden Monat eine Raumfähre startete, waren weibliche Besatzungsmitglieder ein sehr seltener Anblick. »An Starttagen ist unser Fuhrpark überlastet«, erklärte sie Ann. »Das Shuttle Flight Center läßt Sie um…«
»Ja, ich soll um vier Uhr abgeholt werden. Aber ich möchte… ich muß schon jetzt hinaus.«
Der Angestellten war Anns kurzes Zögern nicht entgangen. Ihre bisher gelangweilte Miene wirkte jetzt irritiert. »Augenblick, ich frage mal nach.«
Während die Angestellte eine Telefonnummer wählte, schlenderte Ann durch die Eingangshalle zu der auf den Pazifik hinausführenden Fensterwand hinüber. Am wolkenlosen Nachthimmel glitzerten um diese Zeit – kurz vor Beginn der Morgendämmerung – Hunderte von Sternen. Die hauchdünne Mondsichel schien ins kalte Meer tauchen zu wollen, und der riesige Planet Jupiter leuchtete hell.
»Miss?« Die Angestellte mußte ihre Stimme erheben, bevor Ann sich nach ihr umdrehte. »Der Wagen kann Sie frühestens um vier Uhr dreißig abholen.«
»Schon gut«, wehrte Ann ab. »Ich gehe zu Fuß.«
»Zu Fuß? Bis zum Shuttle Center? Das sind zehn Meilen…« Aber Ann war bereits zur Tür hinaus.
Zehn Blocks weiter hatte sie die Gebäude des Stützpunktes hinter sich gelassen. Vor ihr lag meilenweit unbewohnte Wildnis – verlassene Baracken, leere Parkplätze, verfallende Gebäude und überwucherte Sportplätze zwischen Sanddünen und ungemähten Wiesen.
Als der helle Lichtschein der Zivilisation hinter Ann zurückblieb, fühlte sie sich wie elektrisiert und merkte, daß sie ihr Tempo unwillkürlich steigerte. Die Ozeanbrise wirkte wie ein Aufputschmittel. Im Westen leuchteten die Sterne so groß und nah, daß die leichte Meeresdünung ihr Licht zu reflektieren schien. Im Osten waren die Umrisse der San Rafael Berge gerade eben auszumachen.
Ann verfiel jetzt in leichten, mühelosen Joggingtrab… Ihre Ängste, ihre Alpträume und sogar die unfreundliche Angestellte an der Rezeption erschienen ihr jetzt als Bestandteile einer letztlich harmlosen Verschwörung mit dem Ziel, sie diese Zeit vor Tagesanbruch, diese mysteriöse Kommunikation mit Erde und Himmel erleben zu lassen. Ihre Stiefel knirschten auf hartem Sand, und ihre Wangen brannten in dem kalten Wind, als sie ihr Tempo steigerte. Die kühle Morgenluft schien in ihre Adern zu gelangen und durch ihren ganzen Körper zu fließen.
Ja, dies war die ihr gemäße Umgebung. Frei. Offen. Die Vorstellung, in einem winzigen Raum eingesperrt, auf einem Sitz angeschnallt zu sein, erschien ihr erschreckend, widerwärtig.
Als Ann den Kamm eines kleinen Hügels erreichte, befand sie sich nur wenige hundert Meter vor einem hohen Zaun, der alle 50 Meter von starken Scheinwerfern beleuchtet wurde. Ein kleines Wachgebäude aus Beton blockierte die Straße vor ihr. Luftwaffensoldaten mit Gewehren und Hunden gingen am Zaun Streife; die Hunde zerrten kläffend an ihren Leinen, weil ihre empfindlichen Nasen den Eindringling bereits entdeckt hatten.
Fünf Kilometer jenseits des dreieinhalb Meter hohen Zauns stand ein massives, hell angestrahltes Gebäude, das selbst aus dieser Entfernung deutlich zu sehen
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