Die silberne Göttin
Lordschaft antwortete nicht, doch er trat zur Seite und forderte sie auf voranzugehen. In dem alten Schloss war es bitterkalt. Iantha hätte gerne ihre behandschuhten Hände in die Taschen ihres Mantels gesteckt, doch sie musste beim Treppensteigen ihre Röcke raffen. Ihre Nase begann zu laufen, und ihr blieb nichts anderes übrig, als so unauffällig wie möglich vor sich hin zu schniefen. Endlich erreichten sie eine schwere Holztür. Lord Duncan beugte sich vor und drückte die Tür auf. Iantha trat ins Freie. Vor ihr breitete sich eine blendende Landschaft aus. Als sich ihre Augen nach der Dunkelheit in dem alten Gemäuer an das Licht gewöhnt hatten, erblickte sie ein funkelndes Märchenland. Gegen die dunklen Wolken im Hintergrund zeichnete sich eine schneebedeckte Landschaft ab, wo nur noch die höchsten, windgepeitschten Hügel aus der weißen Pracht hervorschauten. An vielen, von deren Gipfeln sonst Wasserfälle herabstürzten, hingen nun wie Diamanten funkelnde Kaskaden aus Eis. Überall, wo die Sonne schräg auf die Hügel schien, sprang ein Regenbogen auf.
Iantha stand wie versteinert.
Lord Duncan verharrte schweigend neben ihr und schien ebenfalls von der Schönheit dieses Anblicks gefangen zu sein. Zusammen gingen sie den Wehrgang entlang. Die Brüstung hatte verhindert, dass er zugeschneit worden war. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen, um eine besonders atemberaubende Aussicht zu genießen. Als sie an drei Seiten des Schlosses entlanggeschritten waren, kamen sie zu einer weiteren Steintreppe. Weniger als drei Fuß breit, schwang sie sich in schwindelnde Höhe bis zur Spitze des höchsten Turms. Weder ein Handlauf, noch eine Balustrade schützten den, der sie benutzte.
Unter ihr fiel der Fels steil ins Tal ab. An diesem Tag bedeckten Schnee und glitzerndes Eis die Stufen. Iantha ging darauf zu. "Oh, sehen Sie nur! Wie schön! Was ist dort oben?"
Seine Lordschaft schien ein wenig beunruhigt zu sein. "Nur der Ausguck des Wachturms. Aber bitte, Miss Kethley, betreten Sie die Stufen nicht. Sie sind nicht sicher, schon gar nicht, wenn sie mit Eis bedeckt sind."
"Ja, das kann ich sehen, doch vielleicht kann ich sie eines Tages erklimmen. Ich bin absolut schwindelfrei."
"Das ist mehr, als ich von mir sagen kann. Ich könnte es mir nicht erlauben."
"Nun gut." Iantha zuckte die Achseln und blickte sich um. "Wo ist denn die Straße?" fragte sie mit gerunzelter Stirn.
"Ja, wo?" Seine Lordschaft drehte sich einmal um sich selbst. "Wenn ich mich nicht täusche, liegt sie direkt unter uns." Er deutete in die Richtung.
Iantha blinzelte angestrengt. "Wo? Ich sehe sie nicht."
"Ich auch nicht. Doch wenn Sie glauben, dass Sie sie finden können, wird es mir eine Ehre sein, Sie zu begleiten."
Seine Lordschaft kreuzte die Arme vor der Brust und sah unerträglich selbstgefällig aus. Es gab kein netteres Wort dafür: Er sah selbstgefällig aus.
Iantha wurde zornig bei so viel Zurschaustellung männlicher Arroganz. "Nun, das konnte ich wohl nicht wissen, bevor ich es gesehen habe, oder?"
"Nein. Konnten Sie nicht." Sein Gesichtsausdruck wurde etwas milder, und er legte ihr die Hand auf die Schulter. "Miss Kethley, ich verstehe Ihren Wunsch, die Angst Ihrer Familie zu beruhigen und sich selbst aus einer Situation zu befreien, die Ihnen nur unangenehm sein kann. Aber Sie sehen es ja selbst – es wäre völlig verrückt, heute abzureisen."
Tränen drohten Ianthas eiserne Beherrschung zu zerstören. Sie unterdrückte sie und zwang sich, nur an ihr augenblickliches Problem zu denken. Sie würde nicht einem Anfall weiblicher Schwäche erliegen. Sie musste nachdenken, sich auf ihre Intelligenz verlassen. Entschlossen trat sie einen Schritt zurück und entzog sich seiner tröstenden Hand. "Sie haben Recht", nickte sie. "Verzeihen Sie bitte."
Seine Stimme klang sanft und freundlich. "Vielleicht morgen, falls es wärmer wird."
Iantha nickte wieder und atmete ein paarmal tief durch. Noch einmal blickte sie sich um. "Ich denke, Mylord, wenn Sie nichts dagegen haben, bringe ich meine Malutensilien hier herauf und versuche, diesen bemerkenswerten Anblick festzuhalten."
"Ich habe absolut nichts dagegen, doch ich befürchte, Sie werden hier oben erfrieren."
Als Iantha sich umblickte, entdeckte sie einen kleinen Wachraum. "Ich könnte mich in die Türöffnung dort setzen. Ich bin warm angezogen. Also, mit Ihrer Erlaubnis?"
Lord Duncan seufzte. "Wenn ich es Ihnen nun einmal nicht ausreden kann. Kommen Sie, ich zeige Ihnen
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