Die Silberschmiedin (2. Teil)
Lechner.
Johann von Schleußig ergriff wieder das Wort. «Wie ich anfangs sagte: Beinahe jeden Tag kommen Wanderprediger und verkünden das Ende der Welt. Die Leipziger haben Angst. Die schlimmsten Gerüchte machen die Runde. Von Blutregen wird erzählt, von Hühnern, die haarige Eier legen, und von Menschen, die sich nachts in Wölfe verwandeln und die Gräber der Totgeborenen plündern. Einzig Gott kann hier noch helfen, verkünden die Prediger von den Kanzeln. Gott, sagen sie, führt die ans Licht, die Buße tun. Ablasszettel gehen weg wie Freibier. So manche Hausfrau spart schon am Essen, um Geld für die Erlassung ihrer Sünden zu haben. Die Kirche wird reich und reicher dabei. Auch in Leipzig.»
Der Magister schüttelte den Kopf. «Ich verstehe es nicht», sagte er. «Auf der einen Seite verändern Entdeckungen die Welt in einem bisher unvorstellbaren Ausmaß – denkt an die Erkundung der Neuen Welt durch den Genueser Christoph Kolumbus, an die Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg, an Behaims Globus. Vergesst auch Italien nicht. Die alten griechischen Philosophen werden neu entdeckt, neue Weltbilder entwickelt. Und auf der anderen Seite nimmt der Aberglaube der Menschen erschreckende Ausmaße an. Scheiterhaufen werden überall errichtet und Frauen verbrannt, weil man sie der Buhlschaft mit dem Teufel bezichtigt!»
«Das ist doch nur so, weil die Menschen zu wenig wissen!», rief Eva aus. Alle Blicke richteten sich auf sie. Eva verstummte und schlug die Augen nieder. Sie fühlte, wie das Blut ihr die Wangen rot färbte.
«Wie meint Ihr das?» Die Stimme Johann von Schleußigs klang freundlich. Auch die anderen Männer und Frauen betrachteten sie mit Interesse. Niemand schalt sie für ihre vorlaute Art, niemand lachte sie aus.
Eva holte tief Luft, dann fing sie an, mit stockender Stimme zu erklären: «In Italien habe ich viel von Pico della Mirandola gehört. Mirandolas These ist, dass der Mensch sein eigener Herr sei, das heißt, dass der Platz des Menschen nicht gottgegeben innerhalb der Ständegesellschaft ist, sondern dass jeder sich seinen eigenen suchen könne. Doch das kann nur gehen, wenn die Menschen mehr wissen und verstehen. Dann wird auch der Aberglauben zurückgehen.»
Stille herrschte nach seinen Worten. Eva errötete noch mehr. Sie bereute es bitter, sich eingemischt zu haben. Himmel, wie konnte sie nur glauben, zu dieser Runde etwas beitragen zu können! Wahrscheinlich hatte sie nicht nur sich, sondern auch Mattstedt bloß gestellt. Doch in den Gesichtern der anderen stand nur wohlwollende Zuneigung.
«Nicht auf die Pfaffen sollst du hören, sondern auf den eigenen Verstand? Ist es das, was Ihr sagen wollt?», fragte Johann von Schleußig.
Eine der anderen Frauen, eine entlaufene Nonne, die jetzt in einem Beginenhaus lebte und Hildegard hieß, ergriff das Wort. «Ihr habt Recht, Eva. Doch wie kann der Mensch den Zwiespalt schließen, der sich ergibt, wenn der Kopf etwas anderes sagt als das Herz?»
«Darauf», erwiderte Eva, «habe auch ich keine Antwort.»
Andreas Mattstedt lächelte sie an. «Nun, dass Ihr genügend wisst, habt Ihr sicherlich bewiesen. Bitte seid auch so klug und bewahrt über alles hier Gesprochene Stillschweigen. Man kann in diesen Zeiten nicht vorsichtig genug sein.»
Zwei Tage später holte Mattstedt Eva zum sonntäglichen Kirchgang nach St. Nikolai ab. Johann von Schleußig würde heute die Predigt halten.
«Willst du dich uns anschließen?», fragte Eva Susanne, die damit beschäftigt war, ihr Haar zu bürsten, damit es Glanz bekam. Sogar ein wenig von Evas roter Paste hatte sie sich genommen und auf Wangen und Lippen verteilt.
Eva verzog den Mund, als sie Susannes bemaltes Gesicht sah. «Musst du dich am Tag des Herrn aufputzen wie eine Magd zum Maitanz?», fragte sie ungehalten.
«Warum nicht?», fragte Susanne zurück. «Noch bin ich jung genug, um meinen Spaß am Leben zu haben. Willst du mir das verbieten?»
«Gott bewahre. Du kannst tun und lassen, was du willst. Die Hauptsache ist, dass du weißt, was du tust.»
Susanne warf Eva einen finsteren Blick zu.
«Mach dir keine Sorgen, kleine Schwester. Ich weiß zu jeder Tag- und Nachtzeit, was für mich gut und richtig ist», erwiderte sie und trug noch etwas mehr von der roten Paste auf die Lippen, sodass ihr Gesicht nun wie eine Fastnachtsmaske aussah.
Eva zuckte mit den Achseln und wandte sich zur Tür.
An Mattstedts Arm schritt sie die Hainstraße entlang und überquerte den Marktplatz.
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