Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Silberschmiedin (2. Teil)

Die Silberschmiedin (2. Teil)

Titel: Die Silberschmiedin (2. Teil) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
Vom Netzwerk:
die sie noch nie zu stellen gewagt hatte. Und auch heute Abend war sie nicht mutig genug.
    Sie trat einen Schritt zurück und räusperte sich. Doch die Neugierde ließ sich nicht so leicht vertreiben. Sie betrachtete ihre Augenbrauen. Sie hatten nicht den Schwung, den sie sich wünschte, waren ein wenig zu buschig und zu dunkel. Trotzdem empfand Eva eine plötzliche Zärtlichkeit für diese wenig schönen Brauen. Sie strich sanft mit dem Finger darüber und sah ihren Mund im Spiegel lächeln.
    Mit dem Finger fuhr sie die Umrisse ihrer Lippen nach. Ihre Haut begann zu prickeln.
    Eva sah sich und spürte sich so heftig wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Noch nie war sie sich selbst so nahe gekommen. Ihr war, als wäre sie den ersten Schritt auf einem unbekannten Weg gegangen.
    Ihre Hand berührte nun die Halsbeuge, die Finger strichen nach außen bis zu den Schultern. Das Gelenk verschwand in ihrer warmen Hand wie ein Küken unter der Glucke. Eva lächelte bei dieser Entdeckung.
    Sie ließ den Zeigefinger ganz sanft von der Schulter bis zu dem kleinen Dreieck unter ihrer Kehle wandern. Dabei fühlte sie die Knochen unter ihrer Haut und sah sich im Spiegel erstaunt zu.
    «Wer bin ich?», fragte sie, und zum ersten Mal in ihrem Leben wusste sie den Anfang einer Antwort. «Ich bin …», flüsterte sie, doch im selben Augenblick polterte es im Haus, als fiele jemand die Treppe herunter.
    Eva hielt inne, dann stürzte sie zur Tür. «Ist alles in Ordnung?», rief sie.
    «Jo! Alles in Ordnung. Mein alter Fuß hat eine Stufe verfehlt», erwiderte Heinrich.
    «Gute Nacht dann. Behüt dich Gott», sagte Eva und kehrte zurück in die Heimlichkeit ihrer Stube.
    Sie stellte sich erneut vor den Spiegel, doch der Zauber war verflogen. Alles, was sie sah, war ein neuer Fleck auf ihrem Kleid. Sie rubbelte daran herum, richtete eine Strähne des Haares, zog den verrutschten Ärmel über die Schulter nach oben. Jetzt betrachtete sie sich wie eine Käuferin die Waren auf dem Marktstand. War alles frisch? Sauber? Ordentlich?
    Alles saß am rechten Platz. Die Augen, die Nase, Ohren, das Haar.
    Sie fühlte Bedauern. So, als hätte sie etwas verloren, das sie gerade erst entdeckt hatte.
    Eva setzte sich auf ihr Bett und zog langsam die Kleider aus. Ihre Gedanken waren noch immer bei ihrem Spiegel. Vorhin, als sie davor stand, hatte sie den Eindruck gehabt, er wäre ein lebendiges Wesen. Jetzt aber stand er stumm und reglos da.
    Der Spiegel, dachte Eva erstaunt, hat Macht über mich. Gerade eben hatte ich nur Blicke für das, was an mir nicht so war, wie es sein sollte: der Fleck im Kleid, der verrutschte Ärmel. Ich sah es und begann sofort, an mir herumzuzupfen. Der Spiegel ist der Hüter der äußeren Ordnung.
    Gleichzeitig aber habe ich einen Augenblick lang in mich hineingeschaut – und mich auf einmal neu gesehen. Also ist der Spiegel auch der, der mehr zeigt als nur die Oberfläche.
    Auch ein Spiegel hat mehr als nur eine Seite.

Kapitel 4
    »Sie verkünden das Ende der Welt, versetzen die Leute in Angst und Schrecken und bringen Unheil und Wirrnis ins Land.»
    Der Mann, der so sprach, war Johann von Schleußig, der Priester von St. Nikolai. Auf seiner jungen Stirn standen Sorgenfalten. Eva beobachtete ihn interessiert. Trotz seines Gewandes wirkte der Geistliche recht weltlich.
    Andreas Mattstedt neben ihm nickte. «Mit der Angst der Menschen lässt sich viel Geld verdienen. Die Kirche und ihre Diener werden immer fetter dadurch. In vielen Ländern brodelt es. Im Elsass haben sich die Bauern zum Bundschuh zusammengeschlossen.»
    «Zum Bundschuh?» Eva musste lachen. «Ich habe den Namen schon gehört, doch ich finde ihn seltsam für eine aufständische Rotte.»
    «Der Bundschuh ist ein Schnürschuh, der vornehmlich von Bauern getragen wird. Er soll ausdrücken, dass die Bauern sich zusammengetan haben und gemeinsam gegen ihre Herren vorrücken», erklärte Johann von Schleußig und lächelte Eva freundlich an. Eva erwiderte sein Lächeln. Sie war dankbar für die freundliche Aufnahme, die sich sehr von der in der Zunftstube unterschied.
    Mattstedt hatte sie zum ersten Mal zu den geheimen Versammlungen einer kleinen Gruppe von Leipzigern eingeladen. Neben Johann von Schleußig und Andreas Mattstedt waren noch acht weitere Männer – zwei Magister der Universität, der Buchdrucker Kunz Kachelofen, der Stadtmedicus, der Hauslehrer Thanner der Familie Hummelshain, der Stadtschreiber und der Theologieprofessor Lechner – sowie vier

Weitere Kostenlose Bücher