Die Silberschmiedin (2. Teil)
«Wir beide gäben ein schönes Paar ab.»
«Aber mich hat er gezeichnet», widersprach Eva mit überraschender Heftigkeit. «Mich. Nicht dich.»
Susanne setzte sich auf. «Ja. Als Hündchen. Ich weiß nicht, ob du dir darauf etwas einbilden solltest.»
Im selben Augenblick verkündeten die Glocken von St. Nikolai die zehnte Stunde. Susanne sprang auf, als hätte sie darauf gewartet.
«Schlaf gut, Eva. Und gräme dich nicht. Junge Hunde sind meistens süß.»
Ehe die Jüngere etwas erwidern konnte, war Susanne aus der Kammer.
Eva sah auf die geschlossene Tür, ihr Mund öffnete sich zu einer Antwort. Doch Susanne war weg, ihre Worte verschwendet. Was hatte Susanne mit diesem Besuch bezweckt? Wollte sie sich wirklich an David heranmachen? Gedankenverloren zog Eva sich aus. Als sie nach ihrem Nachtgewand griff, fiel ihr Blick auf den Spiegel. Die Kerze davor flackerte ein wenig.
Zögernd ging Eva näher und schloss die Augen. Sie hatte sich noch nie nackt im Spiegel betrachtet. Und auch jetzt wagte sie es nicht. Sie griff nach einem Fell, das auf einer Wandbank lag, und hielt es vor sich. Dann öffnete sie die Augen, trat zaghaft einen Schritt näher. Sie fletschte die Zähne und versuchte zu knurren wie ein Hund, doch ihre Stimme versagte. Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. Sie ließ das Fell fallen und sah im Spiegel eine junge Frau mit herabhängenden Schultern, das Gesicht vom Weinen leicht verzerrt.
Wieder flackerte die Kerze und warf unruhige Schatten an die Wand. Und auf einmal änderte sich Evas Blick. Sie sah nicht mehr sich, sie sah eine Fremde.
Neugierig ging sie noch einen Schritt näher zum Spiegel, ganz nah heran, sodass ihr Atem auf dem Glas zu sehen war. Sie betrachtete die Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Vorsichtig tupfte sie eine mit dem Finger ab und kostete davon, nahm sich die nächste und bestrich damit ihre Lippen. Der Geschmack ihrer Tränen. Sie hatte erwartet, dass sie salzig schmeckten, aber das taten sie nicht. Eva schmeckte Metall, Silber sogar. Die Kerze verlosch, die Kammer lag im Dunklen. Nur das Mondlicht drang durch das Fenster und versilberte ihre Tränen.
Plötzlich empfand sie sich als kostbar. Im doppelten Sinne. Kostbar wie Gold oder Silber. Kostbar wie etwas, das man schmecken konnte.
Es war das erste Mal, dass sie so empfand, und es machte sie glücklich und aufgeregt.
Niemals würde ihre Mutter so vor einem Spiegel stehen und ihre Tränen kosten. Sie war anders, und sie wollte, dass es jemand erfuhr. Jetzt. Sofort.
Sie warf sich einen Umhang über und verließ die Kammer. Ohne weiter darüber nachzudenken, lief sie die Treppe hoch. Es gab nur einen, dem sie sich so zeigen wollte. Oben angekommen, verharrte sie. Hier lagen die Zimmer der Dienstboten. Heinrich, Bärbe und auch David wohnten hier. Alles lag ruhig. Unter keiner Türritze drang ein Lichtstrahl hervor. Sie wünschte sich, eine ganz bestimmte würde sich öffnen, aber alles blieb still.
Sie würde sie selbst öffnen müssen, und sie verachtete sich schon dafür, bevor sie es getan hatte.
Es knarrte ein wenig, als sie die Klinke herunterdrückte. Die Tür schwang auf, und sie trat hastig ein, schloss sie und lehnte sich, plötzlich atemlos, mit dem Rücken dagegen.
Ihr Blick war auf Davids Bett gerichtet. Er drehte sich um und sah sie an. Evas Herz schlug so heftig, dass es alle anderen Geräusche übertönte.
Sie wünschte sich zurück in ihr Bett, unter den Schutz der Decke. Irgendetwas musste jetzt geschehen. Irgendwas. Er musste aufstehen und zu ihr kommen oder wenigstens fragen, was sie hier wollte. Doch er tat nichts davon. Alles blieb ruhig und bewegungslos im Zimmer.
Ich muss mich umdrehen und gehen, dachte sie, doch ihre Füße bewegten sich nicht.
Sie wandte den Kopf zur Seite – und sah ein Kleid auf dem Boden liegen, das sie schon einmal an Susanne gesehen hatte. Tränen stiegen in ihr auf. Tränen der Scham und der Ohnmacht.
Sie griff nach der Klinke, drückte sie hinunter und floh.
Kapitel 7
«Ach, Eva, ich wusste, dass du mir keine Schande hier machst, dass ich mich auf dich mir verlassen kann.»
Die Mutter, die nach Leipzig gekommen war, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass alles so lief, wie sie es geplant hatte, drückte Eva an sich. Seit über einem halben Jahr hatten sich Mutter und Tochter nicht mehr gesehen. Inzwischen war der Winter vergangen und ein neues Jahr angebrochen. Der Frühling stand in voller Blüte, und auch Sibylla wirkte,
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