Die Silberschmiedin (2. Teil)
sah ihre Mutter von der Seite an.
«Nach Leipzig? Was soll ich in Leipzig? Dein Leben wiederholen, Mutter?», fragte sie. «Soll ich deine Geschäfte bis nach Sachsen ausdehnen? Bin ich dir so ähnlich? Nein, das will ich nicht. Ich bin nicht du. Und deine Pläne sind nicht meine.»
«Rede keinen Unsinn, Kind. Wir sind vom gleichen Blut. Du kannst mein Leben zwar nicht führen, weil die Umstände anders sind, aber wir haben immer dasselbe gewollt. Ich gebe dir die Möglichkeit, die ich nie hatte: Werde, die du bist, und beweise dich. Zeige, was du kannst. Und hüte dich vor den Fehlern, die ich gemacht habe.»
Eva wandte den Blick ab. Das Vertrauen der Mutter ehrte sie, aber sie war sich nicht sicher, ob sie das richtige Bild von ihr hatte. Wusste ihre Mutter tatsächlich, wer sie war? Eher als sie selbst?
Eva sah nachdenklich aus dem Fenster. Das Gewitter hatte inzwischen aufgehört. Die Straßen wurden von kleinen Rinnsalen durchzogen. Dort, wo kein Pflaster war, stand der Schlamm knöcheltief. Die ersten Kinder waren bereits ihren Müttern entflohen, hüpften durch die Pfützen und bewarfen einander mit Dreck. Der Regen schien jeden Gedanken an die Tote vom Mainufer weggespült zu haben. Der Alltag forderte sein Recht.
Eva gab sich einen Ruck. «Der Gedanke, in Leipzig zu leben, gefällt mir. Dort müsste ich mich selbst behaupten. Niemand wüsste, dass ich die Tochter der Pelzhändlerin und des Arztes Isaak Kopper bin. Ich müsste allein zeigen, was in mir steckt, wer ich bin.»
Eva lächelte, dann gab sie ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. Im selben Augenblick hämmerte unten jemand mit beiden Fäusten gegen die Haustür.
Die Mutter sah Eva fragend an, dann eilte sie die Treppe hinab.
Die Magd hatte den Gewandschneider Schulte bereits hereingelassen.
«Ich muss mit Euch reden», sagte er, als er Sibylla sah. «Es ist dringend.»
«Gut. Gebt der Magd Euren Umhang und kommt hoch. Lasst Euch einen Krug Most geben und bringt ihn mit.»
Wenige Minuten später saß Bernhard Schulte der Mutter gegenüber. Eva hatte wieder am Schreibtisch Platz genommen und betrachtete den Mann ihrer Stiefschwester Susanne mit Neugier. Schulte war eigentlich ein ruhiger Geselle. Aber irgendetwas schien passiert zu sein. Er wirkte nervös und fuhr sich ein um das andere Mal mit der Hand durch die Haare.
«Es ist wegen Susanne», begann er. Die Mutter goss ihm von dem Most ein, und Eva sah zu, wie Schulte den Becher in einem Zug herunterstürzte.
«Was hat das Weib diesmal angestellt?», fragte Sibylla.
«Ihr habt von der Toten mit der silbernen Maske gehört?»
Eva und die Mutter nickten.
«Nun, das Mädchen war zwei Tage vor ihrem Tod bei uns. Ein Kleid, das sie bestellt hatte, gefiel ihr nicht. Es gab Streit. Susanne hat sie aus dem Haus gejagt. Beinahe wäre es zu einer Prügelei zwischen den Frauen gekommen. Eine Nachbarin hat gehört, wie Susanne das Mädchen verflucht hat. ‹Der Teufel soll dich holen›, hat Susanne geschrien.»
«Nun, Susanne hat es noch nie geschafft, ihre Zunge zu zügeln», sagte die Mutter und zuckte mit den Achseln. Eva erinnerte sich an die Erzählungen der Mutter über das kleine Mädchen, welches Wolfgang Schieren mit in die Ehe gebracht hatte. Zwölf Jahre war Susanne damals gewesen, aber schon eitel, aufsässig und anmaßend. Niemand hätte geglaubt, dass Susanne es ob ihrer Trägheit einmal zu einer der besten Köchinnen in Frankfurt bringen würde. Ihr Haushalt war ein Muster der Ordnung. Sie hielt das Geld zusammen und sorgte dafür, dass sowohl Schulte als auch ihre beiden Kinder und sie selbst stets so gekleidet waren wie die Patrizier.
«Ich wünschte, ich wäre dieser Frau niemals begegnet. Die sieben Plagen können nicht schlimmer sein», klagte Schulte und ließ den Kopf hängen. Susanne hatte sich nie damit abgefunden, dass er nur ein Gewandschneider für die kleinen Leute war, und verachtete ihn. Ihr ewiges Gekeife nahm ihm die Ruhe und die gute Stimmung. Inzwischen war er lieber im Gasthaus als in seinem eigenen, aus dem Susanne einen Palast machen wollte.
«Nun, soviel ich weiß, habt Ihr bisher aus dieser Ehe großen Nutzen gezogen. Immerhin habe ich Euch zur Hochzeit die Werkstatt und den Titel verschafft. Ohne mich, Schulte, würdet Ihr Euer Dasein immer noch als Geselle fristen», erinnerte Sibylla.
Schulte sah hoch. «Ja, das stimmt. Aber ich weiß schon lange nicht mehr, ob es das wirklich wert war. Könnte ich, gäbe ich Euch noch heute Werkstatt und Titel
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