Die Silberschmiedin (2. Teil)
Schleier?»
«Wenn du es nicht verstehst, dann muss ich es dir zeigen», erwiderte David. Er griff nach der Kette an ihrem Hals – einem Schmuckstück, das ihr Vater ihr in Florenz geschenkt hatte – und riss es mit einem Ruck entzwei.
Eva war geschockt. Doch schon drehte David sie an den Schultern um, sodass sie ihrem Spiegelbild gegenüber stand.
«Sieh deinen Ausschnitt an», sagte er. «Gerade noch wurden die Blicke auf die Kette gelenkt. Nun ist dein weißes Fleisch ohne Ablenkung zu sehen. Es ist wunderschön. Es braucht keinen Schmuck.»
Eva sah hin und musste unwillkürlich nicken. Das Kerzenlicht überzog ihre Haut mit einem goldenen Schimmer. Die Ansätze der Brüste wirkten rein und strahlend. Während sie ihr Spiegelbild betrachtete, nahm David sich eine Schere, kniete vor ihr nieder und schnitt sämtliche Bordüren von ihrem Kleid.
«Nicht!», bat Eva und schlug die Hände vor das Gesicht. «Nicht! Ich bitte dich!»
Doch David hörte nicht auf sie. Im Gegenteil, er wurde immer schneller. Eva sah ihm mit weit aufgerissenen Augen zu, unfähig, ein Wort zu sagen und dem Treiben Einhalt zu gebieten. Die Perlen fielen leise klappernd zu Boden.
«Bitte, David, hör auf!», bat sie noch einmal.
Doch vergebens. Schließlich hatte er sein Werk vollendet. Er richtete sich auf, packte sie fest um die Hüften und riss so heftig am Gürtel, dass Eva ins Taumeln geriet. Schere und Gürtel fielen scheppernd zu Boden.
Er trat schräg hinter sie und wickelte sich ihr langes Haar so fest um die Hand, dass Eva das Ziehen bis in den Haaransatz spürte.
«Sieh dich an», sagte er mit heiserer Stimme und wies mit dem Kinn in Richtung Spiegel.
Eva gehorchte. Sie sah sich an und stieß ein leises «Ah!» aus.
So hatte sie sich noch nie gesehen!
Ihr Gesicht war so frei und offen, dass sie glaubte, sie könne durch die Haut hindurch bis in ihren Kopf blicken. Sie sah jede einzelne Ader auf ihrer Stirn, das sanfte Heben und Senken der Nasenflügel, jeden Lidschlag. Ihr war, als hätte jemand einen Vorhang zur Seite gezogen. Nackt und bloß war ihr Gesicht nun. Eva hob die Hand und strich sich ganz zart über ihre Wangen.
So verletzlich hatte sie sich noch nie gesehen. Kostbar, dachte Eva. Ich bin kostbar. Und David hat es vor mir gewusst.
Sie sah ihn im Spiegel an und lächelte.
«Danke», sagte sie. «Du hast mir gezeigt, wie ich aussehe. Du hast das richtige Bild von mir gemalt.»
Er schüttelte den Kopf. «Noch ist es nur ein Bild, das täuschen kann. Du siehst nur dein Äußeres. In einem Spiegel sieht man nur die Hälfte. Du siehst nur deine Vorderseite. Alles andere liegt im Dunklen.»
Eva nickte und betrachtete sich noch einmal. Sie fühlte sich, als hätte sie ein sehr wertvolles Geschenk erhalten. «Ich bin schön», sagte sie leise. «Und du hast es mir gezeigt.»
David nickte. «Ja, Eva, du bist schön. Du bist wie ein weißes Blatt, das darauf wartet, beschrieben zu werden. Vom Leben und der Liebe beschrieben zu werden. Ausgelöscht ist jetzt deine Herkunft, deine Vergangenheit, dein Erbe. Glanzlos wie eine Nonne siehst du aus und zugleich strahlend in der dir eigenen Schönheit. Jetzt, Eva, bist du verdammt, die zu sein, die du bist.»
Mit diesen Worten nahm er ihr Gesicht in seine Hände und küsste behutsam jeden Zentimeter. Ein Schauer lief Eva dabei über den Rücken.
Sein Geruch, eine Mischung aus Metall und Kraft, machte sie schwindelig. Sie schloss die Augen, atmete seinen Duft ein, überließ sich seinen Händen und seinen Lippen und flüsterte dabei: «Mit dir möchte ich ein neues Leben beginnen, David. Ich habe meinen Platz gefunden, den Platz an deiner Seite.»
David erwiderte leise: «Der Liebende ist in Gott und Gott ist in ihm und Gott und er sind eins. Nichts, was zwischen uns jemals geschieht, kann Sünde oder falsch sein.»
Am nächsten Tag schon ließ sie den Notar rufen und verfügen, dass ihre Anteile an der Werkstatt sogleich nach der Hochzeit auf David übertragen würden.
«Wir sind Liebende vor Gott», erklärte sie Mattstedt, dem es nicht gelang, sie davon abzuhalten. «Wir wollen auch gleich sein vor den Menschen. Es kann nicht angehen, dass die Frau des zukünftigen Meisters über mehr Besitz verfügt als der Meister selbst.»
«Hat er dich darum gebeten?», fragte Mattstedt.
Eva schüttelte den Kopf. «Nein, er würde mich niemals um Dinge bitten, die man mit Geld kaufen kann.»
Kapitel 12
Wem würde es einfallen, eine Rose mit Schmuck zu behängen? Wer
Weitere Kostenlose Bücher