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Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)

Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)

Titel: Die Sisters Brothers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick deWitt
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angeschwollen. Die Blasen an den Beinen hatten sich zahlenmäßig glatt verdoppelt, alle waren inzwischen geplatzt und hatten auf seiner Haut einen gelblich braunen Flüssigkeitssee hinterlassen. Die Zehen waren vollständig schwarz, von ihnen ging Todesgeruch aus. Es sah nicht so aus, als ob Warm den Abend noch erleben würde. Ich verließ das Zelt und sah Charlie, wie er Alkohol in einen von Warms Kesseln gab. Nebenan köchelte ein Oberhemd in einer trüben Brühe. Er sagte, das Hemd sei aus einer Satteltasche von Morris, und sah mich an, als warte er auf einen Vorwurf, aber welchen hätte ich ihm machen können? Dann tauchte er die Hand in den Alkohol, und augenblicklich pulsierte die Y-förmige Vene an seiner Schläfe. Jeder andere hätte hier aufgeheult, nicht aber er. Als der Schmerz nachließ, streckte er mir seine Hand entgegen und ich entfernte den Verband. Und wie zuvor lösten sich Lagen von Fleisch ab. Als ich diese Hand sah, wusste ich, es war vorbei, er würde sie nie wieder benutzen können. Charlie sah es auch, sagte aber nichts. Mit einem Stock fischte ich Morris’ Hemd aus dem Kessel und wickelte es, kaum hatte es sich etwas abgekühlt, um seine Hand, wobei ich diesmal auch die Finger einschloss, damit wir sie nicht sehen und uns Gedanken machen mussten.
    Ich begrub Morris unweit des Flusses, dort, wo der Sand in Erde übergeht. Dies dauerte mehrere Stunden, vor allem weil Warm nur einen Klappspaten mitgenommen hatte statt eines brauchbaren langen. Ich verstehe gar nicht, warum diese Dinger überhaupt existieren, denn wer schon einmal versucht hat, damit ein Grab zu schaufeln, weiß, es ist die reine Qual. Ich machte alles alleine, Charlie half mir nur dabei, die Leiche in die Grube zu ziehen. Überhaupt blieb er weitgehend für sich. Zweimal wanderte er sogar weiter flussaufwärts, bis ich ihn aus den Augen verlor. Ich drängte ihn zu nichts, er blieb freiwillig, bis das Grab wieder zugeschüttet war.
    Außerdem war da noch Morris’ Tagebuch. Warum hatten wir es ihm nicht zurückgegeben, als er noch lebte? Ich weiß es nicht, wir hatten wohl einfach nicht daran gedacht. Jetzt überlegte ich, ob wir es mit ihm begraben sollten. Ich fragte Charlie nach seiner Meinung, aber er hatte keine. Am Ende entschied ich mich dafür, das Tagebuch zu behalten. Es enthielt zwar Morris’ private Aufzeichnungen, diese allerdings waren so einzigartig, dass ich dachte, sie sollten der Nachwelt erhalten bleiben, wo sie vielleicht noch staunende Leser fanden. Es war ein Jammer, wie der verrenkte Kadaver von Morris am Grunde des Grabes lag. Der ganze Mann war so schmutzig und rötlich schwarz verfärbt, dass ich, beschämt, am liebsten nicht hingesehen hätte. Obszön, dachte ich, das ist obszön. Und obwohl es gar nicht mehr Morris war, der da unten lag, sondern nichts weiter als ein Ding, sagte ich, als könne er mich hören: »Tut mir leid, Morris, ich weiß, du hättest dir eine stilvollere Feier gewünscht. Doch hat uns allein deine Charakterstärke schon mehr als beeindruckt. Und was immer meine und meines Bruders Hochachtung in dieser Welt wert sein mögen, sei versichert, du hast sie dir ehrlich erworben.« Charlie blieb ungerührt von meiner Rede. Ich weiß nicht einmal, ob er mir überhaupt zuhörte. Wahrscheinlich war alles zu schwülstig. Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass ich nicht jeden Tag so eine Rede halte. Da entsann ich mich des Tüchleins, das mir Mayfields Buchhalterin geschenkt hatte. Ich holte es aus der Tasche und warf es mit ins Grab – wenigstens dieser kleine Luxus musste sein. Das blauschimmernde Tuch entfaltete sich im Fall, segelte in die Tiefe und legte sich gelassen auf Morris’ Brust. Ich fragte Charlie, ob wir das Grab mit einem Kreuz markieren sollten, und er meinte, wir sollten Warm fragen. Ich ging also in Warms Zelt und fand ihn wach vor und einigermaßen ansprechbar. »Hermann«, sagte ich, worauf seine milchigen Augen ungefähr in meine Richtung blickten, obwohl sie nichts sahen. »Wer ist da?«, fragte er.
    »Eli. Wie fühlst du dich? Ich freue mich, deine Stimme zu hören.«
    »Wo ist Morris?«
    »Morris ist tot. Wir haben ihn etwas weiter oben beerdigt. Meinst du, wir sollen ein Kreuz aufstellen oder ihn einfach in Ruhe lassen?«
    »Morris … tot?« Warms Kopf rollte kraftlos vor und zurück. Dann fing er leise an zu weinen, worauf ich das Zelt verließ.
    »Was sagt er?«, fragte Charlie.
    »Ich versuch’s später noch mal.«
    Ich hatte einfach genug von heulenden

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