Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)
Schaden zu begutachten. Es war, als koche sein Fleisch unter der Haut. Man konnte sehen, wie es Blasen warf, lebendige Blasen, ein beängstigender Anblick. Charlie hingegen war eher nur wütend, seine Nüstern blähten sich wie bei einem getroffenen Stier, und Speichel lief ihm in langen Fäden übers Kinn. Aber am beeindruckendsten waren, wie ich fand, seine Augen. Dieser wilde Blick im Feuerschein! Für mich war er geradezu die Verkörperung von Entschlossenheit und hochkonzentriertem Hass. Ich nahm den Kessel vom Feuer und goss warmes Wasser über seine Hand, um die Formel abzuspülen. Dann verband ich die Hand mit einem Hemd, das ich aus unseren Sachen kramte. Warm wusste nicht, was sich bei uns abspielte oder dass Charlie verletzt war. »He, ihr da, beeilt euch! Seht ihr es nicht? Kommt her, hier ist es!«
»Kannst du einen Eimer halten?«, fragte ich Charlie.
Er versuchte es, doch ein unerträglicher Schmerz verzerrte seine Stirn. Schon waren die Finger, die aus dem improvisierten Verband herausschauten, bedrohlich angeschwollen. Es war außerdem seine Schießhand, wie mir in diesem Augenblick bewusst wurde. Es wird auch das Erste gewesen sein, dass sich Charlie gedacht hat, als das Zeug über seine Hand lief. »Ich kann die Hand nicht mehr schließen«, sagte er.
»Aber arbeiten kannst du?«
Er meinte ja, und ich hängte ihm einen Eimer in die Armbeuge. Er nickte, worauf ich mir ebenfalls einen Eimer holte. Jetzt galt es, den Fluss abzuernten.
Denn während wir mit Charlies Verletzung beschäftigt waren, hatte das Wunderelixier seine Wirkung getan, und aus dem Wasser leuchtete es so stark, dass ich die Augen mit der Hand beschirmen musste. Der ganze Grund des Flusses war ein einziges grell schimmerndes Band, vor dem sich jeder Stein, jeder moosbewachsene Felsbrocken scharf abzeichnete. Goldglitter, der noch Minuten zuvor völlig unsichtbar war, sandte nun ein starkes rötlich gelbes Licht aus – wie Sterne am Nachthimmel. Warm war längst an der Arbeit, immer wieder tauchte seine Hand auf den Grund hinab, um herauszuholen, was ging, während sein Kopf, vogelgleich, schon nach der nächsten Beute Ausschau hielt. Er machte das klug und sehr methodisch, doch auf seinem von unten illuminierten Gesicht stand eine geradezu überirdische Verzückung. Morris hingegen hatte sich vollkommen verausgabt und tat gar nichts mehr. Er pflanzte seinen Knüppel in den Biberdamm und stützte sich darauf, wobei sein Blick mit beinahe narkotischer Befriedigung über das Wasser wanderte. Ich sah Charlie an. Seine Miene hatte sich entspannt, Schmerz und Wut waren von ihm abgefallen und vergessen, nur sein Adamsapfel arbeitete. Selbst er musste bei diesem Anblick schlucken, denn er war nichts weniger als überwältigt. Er sah mich an und grinste.
In der festgefügten Welt von Zahlen und Fakten dauerte esetwa fünfundzwanzig Minuten, ehe das Glühen des Goldes allmählich verging, doch in der Zwischenzeit, der Zeit der Ernte, waren wir praktisch der Zeit enthoben. Sogar das Wort Zeit hatte jede Bedeutung verloren. Wenn ich meine eigenen Gefühle zum Maßstab nehme, waren Minuten und Sekunden nicht nur unwichtig geworden, sie existierten nicht mehr. Das lag einerseits sicher an dem stetig wachsenden Haufen Gold, mehr noch aber an der Überlegung, dass all das, was wir gerade erlebten, von einem einzigen Mann ersonnen worden war. Ich hatte vorher noch nie über den Menschen an sich nachgedacht oder darüber, ob ich gerne einer war oder nicht. Doch damals am Leuchtenden Fluss empfand ich unbändigen Stolz angesichts des menschliches Geistes und seines Forscherdrangs, seiner Zielstrebigkeit. Ja, ich war ausdrücklich stolz darauf, am Leben und genau derjenige zu sein, der ich war. Aus unseren Eimern strahlte Gold wie aus einer großen Lampe, und selbst die umstehenden Bäume waren in den Schein des glühenden Flusses gebadet. Ein lauer Wind durchströmte das Tal, küsste mein Gesicht und ließ meine Haare tanzen. Dieser Moment, ein Punkt ohne Ausdehnung, war wohl der glücklichste, der mir in meinem ganzen Leben widerfahren wird. Seitdem will es mir so vorkommen, dass er zu glücklich war, dass der Mensch zu dieser Art Erfüllung eigentlich keinen Zugang erhält. Zumindest lässt sich sagen, dass die Erinnerung daran später jeden weiteren Glücksmoment ordentlich relativiert hat. Es war ebenjenes Absolute, woran kein Mensch dauerhaft festhalten kann. Zumal sich kurz darauf alles in sein Gegenteil verkehrte und so entsetzlich
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