Die Sklavin des Sultans: Roman (German Edition)
kann sie davon unberührt bleiben?« Und Ismail, der ganz vergessen hat, dass er mich in den drei Wochen, die ich im Kerker schmachtete, kein einziges Mal gesehen hat: »Ja, er hat gute Manieren für einen abid . Du bist ein weiser Mann, al-Attar , geh und bring den Jungen auf der Stelle her.«
Ich bin entbehrlich, das Todesurteil schwebt schon über mir. Wer würde mich vermissen? Niemand.
Muss ich etwa diese zerbrechliche Frau um mein Leben anflehen?, frage ich mich. Es wäre der letzte, unehrenhafte Ausweg. Ich spüre das Beben der Entschlossenheit, das mich durchfährt, als ich daran denke, mich vor Alys niederzuwerfen und sie um meinet-, nicht um ihrer selbst willen zu bitten, sich dem Wunsch des Sultans zu beugen. Draußen ruft der klagende Gesang des Muezzins die Gläubigen zum Gebet: dem vierten, passenderweise Al-Maghreb genannt, dem Gebet zum Sonnenuntergang. Ich frage mich, ob es mein letzter sein wird.
»Ich habe die ganze Zeit gewusst, dass es darauf hinauslaufen würde, was stärker ist«, sagt sie leise. »Mein Wille und die Kraft meines Glaubens oder die Zärtlichkeit meines Herzens. Mir scheint es, als gäbe es eine Menge zu fürchten, egal, welche Seite siegt.« Ihre Augen suchen die meinen. Ich weiß nicht, was sie dort sieht, doch das Lächeln, das sie mir schenkt, ist bezaubernd. »Wenn ich mich weigere, werden sie nicht nur mich töten, sondern auch Euch, nicht wahr?«
Plötzlich bringe ich kein Wort mehr heraus. Stattdessen nicke ich nur stumm.
Sie wendet den Blick ab.
ELF
M ein kleines Zimmer ist wiederhergestellt, wie ben Hadou versprochen hat. Mein altes Laken liegt glatt auf dem schmalen Diwan, die Gebetsmatte prangt mitten im Zimmer, und die Schreibschatulle steht auf der Holztruhe, neben dem Messingbrenner. Im Kerzenhalter steckt eine neue Kerze. Ich stelle all diese Dinge auf die Seite und öffne die Truhe. Meine Kleider liegen sauber gefaltet darin, nur das Diwanbuch ist verschwunden. Abdelaziz’ Neffe muss es woandershin gelegt haben. Ich frage mich, warum und bei wem ich darum bitten soll, es mir wiederzugeben. Ich hoffe, dass ich nicht zum Wesir selbst muss.
Dann trete ich in den Hof und sehe mich im Zwielicht um. Nichts hat sich hier draußen verändert, außer dass mit dem warmen Wetter nach dem Regen die Vegetation noch üppiger geworden ist und der Hibiskus noch mehr Blüten bekommen hat; fröhliche rote Trompeten, die ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Konflikten der Menschenwelt bekunden. Normalerweise heitert mich ihr Anblick auf, doch heute deprimiert er mich.
»Nus-Nus?«
Als ich mich umdrehe, steht Abid vor mir, einer der beiden Sklaven, die für die körperliche Hygiene des Sultans zuständig sind, und mustert mich mit breitem Grinsen. »Du bist wieder da! Wir hielten dich für tot! Samir hat es uns erzählt.«
»Tatsächlich? Ich frage mich, warum.«
Der Junge sieht verlegen aus. Er weiß mehr, als er sagen will, vermute ich. Dann fällt mein Blick an ihm herab, und ich sehe, dass er das Diwanbuch unter dem Arm hat.
»Oh, da bin ich aber froh! Ich habe mich schon gefragt, wo es wohl sein mag.« Offenbar renkt sich alles wieder ein, Stück für Stück. Er reicht mir das Buch. Das alte Leder fühlt sich warm und tröstlich an in meiner Hand; seine Proportionen und sein Gewicht sind mir ebenso vertraut wie meine eigenen. Als ich mich, das Buch an die Brust gepresst, abwende, um in mein Zimmer zurückzugehen, sagt Abid: »Du sollst kommen. Der Sultan will dich sehen.«
Ich bücke mich und verstaue das kostbare Buch in der Truhe, wo es hingehört.
»Was machst du?«
»Ich lege es an einen sicheren Ort.«
»Aber nein! Nimm es mit!«
»Jetzt?«, frage ich verständnislos.
»Jetzt!«
»Müssen Korrekturen vorgenommen werden?« Ich stelle mir vor, dass Samir Rafik unzählige Fehler gemacht und damit selbst zu seiner Ablösung beigetragen hat …
»Der Sultan hat eine Frau bei sich.«
Das fünfte Gebet steht unmittelbar bevor. Der Sultan würde niemals das Isha’ salah zugunsten einer Frau in seinem Bett vernachlässigen. Er ist ein frommer Mann und hält sich bis ins kleinste Detail an die Rituale des Gebets. Vielleicht hat Abid ihn missverstanden. »Es ist noch zu früh.«
»Du sollst für ihn dolmetschen. Er kann die weiße Frau nicht dazu bringen, seinen Befehlen zu gehorchen. Er braucht dich, damit sie tut, was er gebietet, und du dann ihre Vereinigung im Buch notierst.«
Mein Herz macht einen Satz und fängt dann heftig an zu pochen. Aber was
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