Die Sklavin des Sultans: Roman (German Edition)
mitreißen. Er möchte seinen Freunden nicht den Spaß verderben; seine Enthaltsamkeit würde sie beschämen …« Und so weiter.
Doch was man nicht ändern kann, muss man akzeptieren. Irgendwie muss ich meine Gedanken beruhigen, meine Gefühle besänftigen, sonst wird der Aufruhr in meinem Inneren sich auf das Baby übertragen und den monströsen Zügen seines Vaters Tür und Tor öffnen.
Nach einigen Wochen an diesem Ort ist die glühende Sommerhitze vorbei, und mir fällt auf, wie sehr ich das friedliche Leben hier, außerhalb der hektischen Rivalität im Harem, genieße. Die anderen Frauen murren und beschweren sich über das immer gleiche Essen, die einfachen Möbel, die Insekten, den beschränkten Raum in den Zelten, doch sie gehen auch nur selten ins Freie. Ich hingegen habe mir angewöhnt, nach dem Abendessen noch ein wenig spazieren zu gehen, abseits der Zelte, aber noch im Bereich der Frauen; ich wäre bestimmt nicht so dumm, ihn zu verlassen. Dann setze ich mich auf einen Felsen, von dort sehe ich den Fluss und die sich dahinter erhebenden Berge.
Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine solche Landschaft erlebe. In den Niederlanden gibt es kaum Hügel oder auch nur Erhebungen. Vom Dach unseres Hauses in Den Haag konnte ich bis zur Küste von Scheveningen und zur grauen See dahinter sehen, über Meilen von Parks und Feldern, Polder und Dünen hinweg. Es war, offen gesagt, kein inspirierender Anblick, aber er war klar, ehrlich und heiter, ganz so wie die Niederländer selbst. An diesem turbulenten Fluss, dessen Fluten nach einem Regenguss braun und schlammig vorbeirauschen, unter den gewaltigen Bergen, deren schroffe Gipfel in die Wolken ragen und am Himmel kratzen, frage ich mich, ob das Temperament der Menschen hier nicht auch die Landschaft widerspiegelt, die sie hervorgebracht hat, ihre Launen verstärkt und ihre Leidenschaften steigert. Vielleicht trägt das ebenfalls dazu bei, dass der Sultan so ist, wie er ist. Ich lege die Hand auf meinen Bauch und bete zu allen Göttern, dass das Kind in mir die besten Eigenschaften beider Welten in sich vereinigt und ich kein Ungeheuer in die Welt setzen werde.
NEUNZEHN
Sha’ban 1088 AH
W ährend sich der Winter in die Länge zieht, erreicht uns das Gerücht, dass es im Tafilalt einen Aufstand gegeben hat. Hier hatte Ismail seinen älteren Bruder Moulay Al-Harrani als Statthalter eingesetzt, nachdem er im Anschluss an die Rebellion in Marrakesch beispiellose Gnade ihm gegenüber hat walten lassen. Jetzt hat sich Al-Harrani, so heißt es, mit seinem jüngeren Bruder Moulay Al-Saghir und einem besonders aufsässigen Berberstamm, den Ait Atta, verbündet und bereitet sich darauf vor, nach Meknès zu marschieren, um die schutzlose Hauptstadt einzunehmen.
Sobald der Sultan davon hört, steigt ihm das Blut ins Gesicht, bis es beinahe schwarz ist. Er stürmt um die Zelte wie eine Gewitterwolke, gibt wütende Befehle und geht so schnell, dass Abdelaziz der Schweiß im Gesicht ausbricht, als er versucht, Schritt zu halten.
»Mein verfluchter Bruder! Will er denn alles zerstören, was ich aufgebaut habe? Hasst er mich so sehr? Ich hätte ihn schon beim ersten Mal töten sollen, statt ihm seinen Aufstand zu vergeben. Ich dachte, es sei ein guter Engel auf meiner Schulter, dem ich damals folgte, als er von Milde sprach, doch in Wahrheit war es der schwarze Teufel. Ich hätte seinen Kopf auf den Stadtmauern von Marrakesch aufspießen sollen, als ich die Gelegenheit hatte. Doch diesmal schlage ich ihn eigenhändig ab und stelle ihn auf dem Haupttor von Meknès zur Schau!«
Abdelaziz stimmt überschwänglich zu. Alles andere wäre glatter Selbstmord, solange der Sultan in dieser Stimmung ist. Doch als Ismail davon redet, sein Heer durch die Berge nach Süden zu führen, um die Rebellen niederzuschlagen, sehe ich, wie der Großwesir blass wird. Nachts erhebt sich ein eisiger Nebel aus dem Fluss, wie der gespenstische Atemhauch tausender djenoun , und senkt sich auf die Zelte nieder, sodass diese am Morgen vor Kälte gefroren sind. In den Ausläufern eines Gebirges, fern des gewohnten Luxus zu kampieren ist schon schlimm genug, aber ein Gewaltmarsch durch unwegsames Gelände im Winter? Unser Wesir ist nicht so fett und schlaff geworden, weil er ständig Gewaltmärsche unternimmt. Schon macht er den Vorschlag, nach Meknès zurückzukehren, um die Bauarbeiten zu überwachen.
In Ismails Auge erscheint ein Glitzern, als er sich umdreht, und ich sehe, dass ihm all
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