Die Sklavin des Sultans: Roman (German Edition)
lebten, sodass wir uns auf sichererem Boden bewegten als bei meinem geliebten Rumi und seinen kühnen, ja ekstatischen Visionen und gefährlich ketzerischen Ansichten. Doch Ismail hat niemals auch nur einen Anflug von Verletzlichkeit oder Zweifel erkennen lassen, und deshalb weiß ich nicht, was ich antworten soll. »Als großen König?«, schlage ich vor.
Er nickt langsam. »Aber was macht einen großen König aus? Was werden die Geschichtsbücher über mich schreiben?«
»Mit solchen Fragen kenne ich mich nicht aus, Herr.«
Seine dunklen Augen ruhen glitzernd auf mir. »Abdelaziz hat gesagt, dass du Sohn eines Königs bist.«
Ich könnte es abstreiten und behaupten, dass der Großwesir gelogen hat, obwohl das Reich meines armen Vaters am Ende kaum größer war als einer von Ismails Pavillons und ich mich selbst nie als Prinzen empfand. Ich senke den Kopf. »Ein sehr unbedeutender König, Herr. Das kann man nicht vergleichen.«
»Ach was, mein Junge, sei nicht so bescheiden.«
Gibt es etwas Nervenaufreibenderes, als den kalten Blick des Henkers auf sich zu spüren, wenn er dich auffordert, dich selbst zu verurteilen? Verzweifelt erinnere ich mich an alles, was mein Gehirn aus den Erzählungen und Liedern der Griots im Schein des Lagerfeuers gespeichert hat. Königliche Namen wirbeln mir durch den Kopf: Echnaton, der Pharao, Askia Ture, König von Songhai, Caesar aus Rom, Hannibal, Kyros, Alexander und Salomo, der ein Kind in zwei Hälften teilen wollte, um jeder seiner Mütter eine zu geben oder so ähnlich. Meine Brüder und mich haben die blutigen Details dieser großen Geschichten sehr beeindruckt: Gefangene, deren Schädel von Elefantenbeinen zermalmt wurden, lebendig begrabene Feinde, Säuglinge, die man als Brandopfer heidnischen Göttern darbrachte, die Massaker von Djenné und Babylon … Könnte es sein, dass Grausamkeit eine notwendige Eigenschaft für einen König ist, oder ist es eher so, dass ein Leben als König einen Mann zu einem solchen Verhalten zwingt? Ist die Neigung, sich wie ein Ungeheuer aufzuführen, hilfreich auf dem Weg zur Macht? Es heißt, Ismail habe sich gegen ein Dutzend oder mehr verdienstvoller Anwärter auf den marokkanischen Thron behauptet, allerdings weiß ich nicht, wie viel davon wahr ist. Oder verbiegt die Macht die Seele eines Mannes dermaßen, dass er sich den anderen überlegen fühlt? Wenn sich alle vor mir verneigten und mich wie einen Gott auf Erden behandelten, jede meiner Launen akzeptierten, sich voller Angst vor mir zu Boden würfen und wegschauten, wenn ich Blut vergieße, wäre ich dann nicht genauso wie Ismail? Der Gedanke ist verräterisch, und ich habe Angst, dass er mir ins Gesicht geschrieben steht. Schon jetzt habe ich viel zu lange gebraucht. Mach schon, Nus-Nus! Sag was! Irgendwas!
»Ich glaube, dass man Euch als den Helden von Marokko in Erinnerung behalten wird, Herr.«
Die schimmernden Augen verengen sich zu Halbmonden – Misstrauen? Nein, Entzücken. »Der Held, ja, das gefällt mir. Man wird sich an mich als Verfechter des Glaubens, Geißel der Ungläubigen, Überbringer des Halbmonds erinnern. Als den Architekten, den König, der Meknès von einem Bauerndorf zu einer großen, imperialen Stadt gemacht hat. Und nicht zuletzt als Begründer einer ruhmreichen Dynastie.« Jetzt ist er aufgesprungen und geht auf und ab, als wäre er entschlossen, auf der Stelle dieses Bild von sich der Welt entgegenzuschleudern. Natürlich ist er schon jetzt Teil einer Dynastie, der Alawiten, jener sherifs , deren Abstammung von dem Propheten über die Linie seiner Tochter Fatima belegt ist. Das erwähne ich jedoch nicht. Auch nicht seine bestialischen Kinder, die man erst an diesem Morgen erwischt hat, wie sie sich Zugang zu einem Proviantwagen verschafft und die Bäuche mit einer gefährlichen Mischung aus Datteln, Zucker und smen vollgestopft haben, jener ranzigen Butter, deren Gewicht mit Gold aufgewogen wird. Ich könnte schwören, dass sich seine Söhne ihre Gesichter damit beschmiert haben, nur weil sie so kostbar ist. Es gibt alte Frauen in den Dörfern, die ein Glas smen klugerweise nur löffelchenweise verbrauchen, beispielsweise um eine Sauce zu verfeinern, einem Couscous für einen besonderen Anlass oder einem Hochzeits-Tajine mehr Geschmack zu verleihen. Doch die Reichen und Verwöhnten verstehen den wahren Wert der Dinge nicht. Sie essen, bis sie sich erbrechen, und dann essen sie weiter. Die königlichen Emire konnte man an der Kotzspur erkennen, die
Weitere Kostenlose Bücher