Die Sklavin mit den Mandelaugen
Stunden
endlosen, mühsamen Reibens es bedurft hatte — und lief spitz zu. Offenbar hatte
sie den Löffel aufrecht in der Hand gehalten und sich dann hineinfallen lassen.
Aber das konnte sie nicht im Bett getan haben, sondern nur auf dem harten
Boden, der unter dem Druck ihres Körpers nicht nachgeben konnte. Nach ihrem Tod
mußte jemand den Raum betreten haben und sie wieder auf das Bett gehoben haben.
In der einen Ecke des Zimmers entdeckte ich Blutflecken, die noch nicht ganz
trocken waren.
Marta Murad mußte ein sehr
schönes Mädchen gewesen sein, dachte ich verstört. Sie war höchstens zwanzig
Jahre alt. Welches menschliche Ungeheuer hatte die entsetzlichen Schläge auf
dem Gewissen, deren Spuren den ganzen Körper des Mädchens zeichneten? Welches
menschliche Ungeheuer hatte dieses schöne, blutjunge Mädchen dazu getrieben, stundenlang
den metallenen Griff des Löffels zu einer scharfen Spitze zu reiben? Welches
menschliche Ungeheuer hatte in diesem Mädchen die grauenhafte Überzeugung
geweckt, daß der Tod ungleich leichter war als weiteres Leiden?
In der Ferne, durch das Loch
der Falltür, konnte ich Menschen laufen und rufen hören, aber das schien nicht
wichtig. Murad hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Sein Kopf war noch
immer zurückgeworfen, die Adern seines Halses angeschwollen. Seine Stimme hatte
versagt, doch der geöffnete Mund war zu einem lautlosen Schrei erstarrt. Und
dieses grauenvolle Schweigen war entsetzlicher noch als der wilde Schrei, der
mich herbeigerufen hatte.
Ich rief ihn an, doch er hörte
mich nicht. Ich zupfte an seinem Ärmel, doch er fühlte es nicht. Nach einer
Weile gab ich es auf. Er war wohl in diesem Augenblick für keinen Menschen
ansprechbar, und ich glaube, daß auch niemand das Recht besaß, ihn aufzustören.
Als ich wieder zu der Falltür
gelangte, war der ganze Raum über mir in dämmriges Licht getaucht, das von der
schirmlosen Birne an der Decke des Zwingers ausging. Ich blickte hinauf zu dem
Kreis von Gesichtern, die schweigend auf mich niederstarrten. Keiner machte
eine Bewegung, um mir hinaufzuhelfen. Ich mußte mich Zentimeter um Zentimeter
emporziehen.
Als ich mich aufrichtete und
ihnen gegenüberstand, starrten sie mich weiter stumpfsinnig an, als beseelte
sie alle das instinktive Gefühl, davor verschont zu bleiben, das Entsetzen, was
immer es auch sein mochte, zu teilen, solange sie schwiegen.
Ich blickte jeden von ihnen der
Reihe nach an. Julie Kern. Sein grausames Gesicht war ruhig und ausdruckslos.
Frankie Lomax, gespannt, vielleicht dem Zusammenbruch nahe. Leila Zenta, die
unkontrollierbar zitterte. Beatrice Corlis, die Haut ihres Gesichts ein wenig
bleicher als sonst, die blauen Augen nicht ganz so hart und unbewegt. Tino, wie
Julie Kern, ausdruckslos, abwartend. Michael, mit grauem Gesicht und zuckendem
Mund. Und schließlich noch Matthew Corlis, der zum erstenmal, seit ich ihn
kannte, seinen Blick stetig und unverwandt auf mich gerichtet hielt.
»Mr. Boyd«, sagte er ruhig.
»Was ist dort unten geschehen ?«
»Das Mädchen ist tot«,
antwortete ich ihm.
Dann beschrieb ich, wie sie
gestorben war, und fügte auch meine Vermutung über den Grund ihres Selbstmords
hinzu.
Kurz nachdem ich geendet hatte,
hörten wir alle das Geräusch müder, schleppender Schritte vom Gang aus dem
Keller heraufdringen. Dann tauchte Abdul Murad auf. Er kroch dahin wie ein
Mensch, der eine unerträgliche Bürde zu schleppen hat. Als er zur Falltür kam,
bot ich ihm meine Hand, um ihm heraufzuhelfen, doch er übersah sie. Er legte
seine Handflächen auf den Boden, der sich mit seinem Kinn auf gleicher Höhe
befand, und zog sich dann mit einer unglaublich geschmeidigen Bewegung hoch.
Als er vor uns stand, blickte
er alle mit ausdruckslosem Gesicht an und schwieg. Es waren vielleicht zehn
Sekunden, aber sie schienen wie eine Ewigkeit. Dann begann er mit leiser,
heiserer Stimme zu sprechen.
»Meine Tochter«, sagte er. »Wer
von Ihnen ist für das, was mit ihr geschehen ist, verantwortlich ?«
»Beatrice ?« meinte Julie unbefangen nach einer langen Weile des Schweigens. »Wer war
während der Zeit, als Sie das Mädchen da unten gefangenhielten ,
im Haus ?«
Ihre Augen schossen Blitze des
Hasses, dann begann sie mit schriller Stimme zu sprechen.
»Ich verstehe nicht, wie es
geschehen sein kann. Höchstens wenn irgendein Unmensch zufällig das Geheimnis
des Garderobenhakens entdeckt hat und...«
»Nach dem ersten Tag«,
unterbrach Tino plötzlich,
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