Die Sklavin mit den Mandelaugen
Zwielicht der
Dämmerung geeinigt.
Wir gelangten um neun Uhr an
den Strand. Die Gewitterwolken, die sich über der Bucht zusammenballten,
verdunkelten den letzten Schimmer des schwindenden Tageslichts, und die steile
Felswand, die sich vor uns erhob, wirkte wenig einladend.
»Ich glaube, die Wolken ziehen
sich immer mehr zusammen«, sagte ich zu Murad. »Es ist das beste, wenn wir
sofort mit dem Aufstieg beginnen .«
»Der Meinung bin ich auch«,
stimmte er zu. »Haben Sie Erfahrung als Bergsteiger, Mr. Boyd ?«
»Nicht die geringste«, bekannte
ich.
»Ich habe in der Schweiz
verschiedene Bergtouren gemacht«, berichtete er. »Vielleicht ist es am
klügsten, wenn ich vorausgehe .«
»Mit Vergnügen«, sagte ich
aufrichtig. »Und passen Sie auf Drähte und Fußangeln auf, wenn Sie zum Gipfel
kommen«, riet ich.
Die ersten dreißig Meter waren
nicht allzu schwer zu bewältigen. Wir kamen an Stellen, an denen man ein paar
Schritte gehen konnte, und wenn es uns zu steil wurde, krochen wir auf allen vieren. Doch dann wurde es ganz plötzlich schwieriger, und ich
war Murad von Herzen dankbar, daß er den Weg bahnte. Er suchte mit methodischer
Genauigkeit nach Vorsprüngen, an denen man sich festhalten konnte, nach kleinen
Plateaus, auf die man seine Füße setzen konnte, und erklärte mir jeden Schritt.
Als wir etwa drei Viertel des Wages hinter uns
hatten, machte ich den Fehler, zurückzublicken, um zu sehen, wie weit wir
gekommen waren. Einen entsetzlichen Moment lang war ich wie gelähmt, starrte
mit schwindelndem Kopf hinunter in die gähnende Leere, die sich in der
Finsternis bis in die Unendlichkeit fortzusetzen schien. Dann preßte ich mich
an die Felswand, während meine Finger verzweifelt an dem kahlen Stein
entlangfuhren. Allmählich beruhigte ich mich wieder.
Drei Meter unter dem Gipfel
wurde der Anstieg senkrecht. Ich setzte meinen Weg mit der Sturheit eines
Maulesels fort und weigerte mich standhaft, klein beizugeben. Mein ganzes
Denken konzentrierte sich auf die Stellen, wo Murad seine Füße aufsetzte. Ich
wartete, bis sein Fuß verschwand, krallte dann meine Hände in den Stein, zog
mich hoch und seufzte jedesmal erleichtert, wenn ich wieder ein Stückchen festen Boden unter den Füßen hatte. Ich hatte mich beinahe
mit den Mühen und Anstrengungen abgefunden, als Murad plötzlich aus meinem
Blickfeld verschwand. Eben war er noch etwa zwei Meter über mir zu sehen
gewesen, und plötzlich hatte er sich in Luft aufgelöst.
Verzweifelt überlegte ich, was
ihm zugestoßen sein mochte. Er konnte nicht abgestürzt sein, denn das hätte ich
gehört oder gesehen. Was war los? Ich fühlte, wie mir ein eiskalter Schauer der
Angst den Rücken hinunterkroch.
»Murad !« flüsterte ich in Todesangst. »Wo sind Sie ?«
Sein Gesicht erschien plötzlich
einen Meter über mir, aber es war mir zugewandt.
»Was, zum Teufel, machen Sie
denn ?« stöhnte ich verängstigt. »Wollen Sie wieder
runter ?«
Der Idiot hielt das für einen
Witz und lachte leise.
»Ich möchte Ihnen Ihren Humor
nicht rauben«, erklärte ich erbittert, » aber ich sitze hier fest und kriege
gleich einen Krampf in den Fingern .«
»Mr. Boyd«, seine Stimme klang
plötzlich besorgt. »Ich dachte, Sie wüßten es .«
»Was ?« fragte ich.
»Sie sind genau zwanzig
Zentimeter unter dem Gipfel des Felsens. Reichen Sie mir nur Ihre Hand .«
Wenig später streckte ich mich
neben ihm im Gras aus und leistete einen heiligen Eid, daß ich nächstes Mal
einen Hubschrauber mieten würde.
Wir ruhten uns fünf Minuten
aus. Als wir aufstanden, warf ich einen Blick auf meine Uhr und stellte fest,
daß es halb zehn war.
»Wenn es Ihnen recht ist, Mr.
Boyd«, flüsterte Murad, »werde ich wieder vorausgehen, bis wir zu den
Hundezwingern gelangen. Dann müssen Sie die Führung übernehmen. Das beste ist,
wir kriechen, um den Drähten zu entgehen .«
Es war ein guter Einfall
gewesen, durch den Rasen zu robben wie zwei alte Soldaten. Murad entdeckte drei
gespannte Drähte, jeweils zwanzig Zentimeter über dem Boden. Schließlich
erreichten wir die Hundezwinger und richteten uns wieder auf.
»Jetzt folge ich Ihnen, Mr.
Boyd«, flüsterte Murad höflich.
Das Haus, das ungefähr sechzehn
Meter von uns entfernt lag, war hell erleuchtet. Meine Gedanken wanderten einen
Augenblick zu Lomax und Kern, die jetzt mit Beatrice verhandelten, und ich
fragte mich, wie Beatrice wohl Leila Zentas Versuch auf nehmen mochte, die
Aufmerksamkeit Michaels auf sich zu
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