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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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Hochziehen der Brauen, alles kam auf den Punkt genau. Ich bin sicher, die Dauer seines Auftrittes differierte niemals um mehr als eine Minute. Dennoch – und deshalb diese Anmerkung – musste das Publikum, wenn der Zauberer lachte, das Gefühl haben, es sei etwas Unvorhergesehenes passiert, was den Mann so besonders erheiterte.
    Der Applaus, den der Zauberer erhielt, war der Applaus von Glücklichen, und der Zauberer schien einer der Ihren zu sein.
    Ich breche die Beschreibung des Zauberers ab, denn sie läuft Gefahr, in eine Vorlesung über meinen Begriff von Bühnenästhetik auszuarten.
    Ich bitte Sie nur, mir zu glauben, dass ich jahrelang allen Leuten, die sich für Schaugeschäft im Allgemeinen und Zauberei im Besonderen interessiert haben, mit der Beschreibung des besten Zauberers der Welt auf die Nerven gegangen bin. Natürlich nicht jenen, die ihn gekannt haben, denn die stimmten in die Schilderung immer ein.
    Es vergingen Jahre.
    Der Zauberer war für mich Geschichte.
    Eines Tages stand sein Name wieder auf dem Plakat: groß, unübersehbar, als die Top-Sensation des circensischen Unternehmens.
    Fiebernd wie ein kleines Kind saß ich in der Loge. Die Sprecherstimme kündigte an, der Tusch leitete ein, der Spot holte ab. Da stand der Inder mit dem unpassenden Namen und war etwa fünfundzwanzig Jahre jünger. Ein rascher Blick in das Programmheft belehrte mich, ich hatte auf dem Plakat ein kleines
junior
überlesen. Es war der Sohn des besten Zauberers aller Zeiten.
    Er war die Wiedergeburt, die Neuauflage, die Kopie. Er konnte alles, was sein Vater konnte, er hatte an der Nummer nicht das Mindeste verändert, er exekutierte sie.
    Ich sah bald nicht mehr sehr konzentriert zu, ich kannte ja jede Bewegung, ich begann mir zu überlegen, ob ich mit der Annahme, der Junior hätte nicht ganz den Erfolg des Vaters, nicht einer Täuschung unterliege, einer Täuschung, die auf der Verklärung des einstmals Gesehenen beruhte. Auch dachte ich darüber nach, dass alles, was der junge Mann zauberte, für eine neue Generation wieder völlig neu war, mein instinktiver Einwand gegen die Neuauflage wahrscheinlich nichts anderes als die Blasiertheit der Erfahrung.
    Doch dieser Zauberer gefiel mir nicht, sosehr ich mich auch wehrte, mir dieses Missfallen zu gestatten. Im Pressewagen des Zirkus traf ich einen alten Bekannten, der sich seit Jahren als vorausreisender Pressechef von Zirkusunternehmen sein Geld verdiente. Er war ein echter Baron – warum er vom rechten Weg des guten Hauses abgekommen war, hat er mir nie erzählt – und lange Artist gewesen, Fänger einer Trapeztruppe. Jetzt saß er, jede Menge Wasser in den bandagierten Beinen, kurzatmig da und beantwortete die Fragen der journalistischen Volontäre, die wissen wollten, ob die in sechster Generation aus dem Tiergarten stammenden Raubtiere direkt aus Afrika eingeflogen worden wären.
    »Arbeitet der Alte nicht mehr?«, fragte ich ihn, als wir allein waren.
    »Doch«, sagte er, »und wie! Der hat ein paar Jahre pausiert, weil da irgendwas mit der Galle war, aber soviel ich weiß, ist er zur Zeit in Las Vegas und räumt ab wie eh und je. Den Alten musst du immer noch vier Jahre im Voraus buchen.«
    »Wie findest du den Sohn, jetzt einmal ganz ehrlich?«
    »Fantastisch ist der Junge. Fantastisch. Aber der Vater ist er nicht.«
    »Das Gefühl hatte ich auch. Aber woran liegt’s?«
    »Man hat’s oder man hat’s nicht«, sagte der Baron. Mit dieser Antwort war ich unzufrieden. Es muss sich allzeit bestimmen lassen, was einer hat und was nicht, bei Zauberern und bei anderen.
    Es vergingen noch einmal Jahre. Ich hatte den Beruf gewechselt und war – in gewisser Weise – Kollege des Zauberers geworden. Ein bei dieser Gagenhöhe ohne Zögern angenommenes Engagement für eine interne Gala eines Mediengiganten führte mich in ein Luxushotel in den Schweizer Bergen.
    Ich saß im Café und wartete auf einen Vertreter der Veranstalter, der mir endlich einmal verbindlich sagen sollte, welche Nummern in welcher Reihenfolge ich anzuconferieren hätte, als ich ein paar Tische weiter einen älteren, sehr abgemagerten Herrn mit allzu kastanienbraun gefärbten Haaren sah – den besten Zauberer aller Zeiten.
    Ich ging hin, machte mich bekannt und fragte:
    »Wissen Sie, wann ich Sie zum ersten Mal gesehen habe?«
    »Erspar mir das, Freund«, sagte er.
    »Arbeiten Sie im Moment in Europa?«
    »Nein. Sie haben mich eingeflogen. Ich weiß auch nicht, warum ich noch solche Sachen

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