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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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stehe mir ja noch näher. Um diese Zeit steht er wohl vor einer Klasse, der Herr Professor, und erklärt die Weltgeschichte. Am Rande des Disziplinarverfahrens. Ja, politisch ist er in Ordnung, mein Alter. Da kann ich stolz auf ihn sein. War ich ja auch immer. Aber immer die Lebensregeln. Diese ewigen Lebensregeln. Wenn du nicht aufhörst, dann …
    Im Hirn des Klavierspielers trommelten Triller.
    Welchem Gott soll ich danken, dass ich mir diesen Scheiß nicht mehr anhören muss? Aber ich sollte wieder einmal vorbeischauen bei den Alten, das gehört sich einfach so.
Sie
ist ja nicht so schlimm. Er doch auch nicht, in gewisser Weise.
    Plötzlich bekam der Klavierspieler Angst, die Eltern könnten
ihn
besuchen. Weil er doch schon seit Tagen – oder waren es Wochen? – nichts mehr von sich hatte hören lassen. Wie sein Zimmer aussah! Seine Kleinwohnung! Dieses Chaos, das man nicht mehr anzugreifen wagt, das einen aus der Wohnung treibt. Noten, leere Flaschen, CDs, Socken, verdreckte Keyboards. Und das schöne, fleckunempfindliche Leintuch hatte er auch vergessen, aus der Wäscherei zu holen. Seit Tagen schlief er auf dem Unterbett.
    Wenn das die Alte sieht und den Staub auf dem Klavier, heult sie. Aber wenn ich sie besuche, dann nur, wenn
ich
die Nacht davor trocken war. Nur dann.
    Der letzte Familienausflug fiel ihm ein. Auch schon eine Zeit her. Da hat er schön geschaut, der Alte, wie ich gesagt habe, ich trinke zur Zeit nichts. Keinen Schluck. Er hat beinahe ein schlechtes Gewissen gehabt, wie er vor mir seinen Wein getrunken hat. Aber ich war eisern. Ich habe ihn beschämt. Nur ist dann dieser Trottel von einem Wirt mit Schnäpsen gekommen. Zum Abschied. Spende des Hauses. Den hab ich natürlich getrunken. Und den von meiner kleinen Schwester auch. Und dann hat der Herr Professor so blöd dreingeschaut, so blöd verletzt. Unerträglich.
    Er legte sich noch einmal aufs Bett.
    Das war zu arg gestern, gestand er sich ein. Es war ja auch wieder Schnee dabei. Natürlich, da ist doch diese Schwarze gekommen und hat gesagt, ich soll mit ihr aufs Klo, sie hat was. Da bin ich mit ihr gegangen, es hätte ja was bringen können. Aber sie wollte nur koksen mit mir. Hab ich halt. Warum denn? Ich will doch schon seit Wochen nicht mehr. Der Dreck geht derartig ins Geld. Gut, heute Nacht war ich eingeladen, aber sonst? Das muss sich alles aufhören. Auch die Sauferei!
    Er sah eine Grappaflasche auf dem Klavier stehen. Ein schwaches Drittel war noch drin. Er stand auf. Er verspürte den unbändigen Drang, sie anzusetzen. Nur um diesen ekligen Geschmack der Buttermilch abzutöten. Er griff die Flasche an, hielt inne. Er bekam Angst. Doch nicht am Vormittag! Doch nicht, ohne was gegessen zu haben! Bin ich abhängig? Bin ich schon abhängig? Das bringt mich um! Das erledigt mich. Als Klavierspieler! Überhaupt! Total!
    Er stellte die Flasche ab und vergrub sich noch einmal in seinem Kissen.
    So jung er war, so viele hatte er schon gesehen, mit denen es nicht mehr weiterging. Und von anderen hatten Kollegen erzählt, wie die früher waren, bevor sie sich weich gesoffen hatten. Welche Chancen die gehabt hätten.
    Das Wort
Chancen
fraß sich fest. Da war doch was in der Nacht, versuchte der Klavierspieler sich zu erinnern. Da war doch was! War es im »Logos« ? Nein, dort war gar nichts. Dort war nur die Schwarze mit dem Schnee.
    Es fiel ihm ein, was war. Der Anrufbeantworter hatte geblinkt, als er durch die Eingangstür stolperte. Es war was drauf. Die »Komödie« war drauf. Die Direktion der »Komödie«. Er ging zum Anrufbeantworter und spielte sich den Anruf noch einmal vor. Eine freundliche Frauenstimme fragte, ob er gegen Mittag beim Direktor der »Komödie« vorsprechen könne. Der habe ein Problem und daher ein Angebot.
    Der Klavierspieler erinnerte sich gerne an die Zeit in der »Komödie«. Im letzten Jahr war das. Da hatten sie zu viert ein kleines Musical begleitet –
Kammermusical
war auf dem Plakat gestanden und er hatte die leicht angestaubte Musik neu arrangiert.
    Da ging sie doch ganz tierisch ab, erinnerte er sich stolz. War auch gut besucht, das Ding. Wenn da eine blöde Gans nicht einen Fernsehurlaub bekommen hätte, könnten wir’s wahrscheinlich heute noch spielen!
    Theater ist toll. Da ist alles so ordentlich. So geregelt. Da musst du pünktlich bei der Probe sein, eine halbe Stunde vor der Vorstellung im Theater, da gibt’s kein Zuspätkommen, da gibt’s kein Nicht-in-Form-Sein, da muss man immer sein

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