Die Socken des Kritikers
mache. Ich glaub, ich spinn.«
Über die Jahrzehnte hatte sich der Bodensatz des ungarischen Akzents nicht aufgelöst.
Da saß er also,
der beste Zauberer aller Zeiten
, und kam mir ohne sein indisches Kostüm vor wie ein gemütlicher, kränkelnder, leicht verwirrter Rentner.
Am Abend sah ich seiner Nummer von der Bühnenseite zu, was heißt Bühnenseite, man hatte in der schönsten Konferenzhalle des Nobelschuppens so etwas wie ein Podium gebaut und die Auftritte mit Stellwänden abgedeckt. Ich war dem Zauberer also auf drei Meter nahe. Er machte seine Nummer, seine
routine
, sein Lebenswerk in dreißig Minuten. Hätte man nur seinen Sohn gesehen, man hätte denken können, er kopiere ihn.
Es war alles wie immer, es war faszinierend, es war grandios. Kurz nur hatte ich das Gefühl, er hätte Schwierigkeiten mit dem Atem, ich meinte auch, er schwitze allzu stark, aber das war wohl nur die Nähe, die mich das bemerken ließ.
Nach wenigen Manipulationen und den dazugehörigen Kommentaren war ich dem Zauber des Zauberers völlig erlegen.
Nein, sagte ich mir wie einst, das gibt es nicht! Nein, das gibt es doch nicht! Nein, das kann es nicht geben! Ich werde wahnsinnig!
Dass dieses Publikum – hinter Champagner hervorlugend – eher gönnerhaft als hysterisch reagierte, störte mich nicht. Der Mann war ganz einfach der beste Zauberer aller Zeiten.
Langsam begann ich zu begreifen, was an seinem Sohn nicht gut war. Warum er nicht gut war. Aber ich wollte es mir erst vom Vater bestätigen lassen, bevor ich es endgültig glaubte.
»Trinken Sie noch ein Glas Wein mit mir?«, fragte ich, als die animierte Festveranstaltung einen Transvestiten um die dritte Zugabe bat.
»Ich darf nicht, wegen der Galle. Welchen trinken wir denn?« Und er lachte.
Kurz bevor die zweite Flasche eines kalifornischen Roten – auf dem hatte der Zauberer bestanden – leer war, sprach ich mein Thema an.
»Ich habe Ihren Sohn gesehen.«
»Hat er Ihnen gefallen?«
»Jaaa – aber –«
Ich kam nicht dazu, meine Frage zu formulieren. Ich brauchte zu lange, um mich für eine Wortwahl zu entscheiden, die den Vater möglichst nicht verletzte. »Er hat einen Fehler«, sagte der Zauberer. »Er hält die Leute für blöd. Er kann die Tricks zu gut. Seit er so klein war, hat er sie mir abgeschaut, seit er so klein war, hat er sie gekonnt, er hält die Leute für blöd, die nicht merken, wie es geht. Er weiß nicht, dass er es auch nicht merken würde, wenn ich nicht sein Vater wäre. Er verachtet das Publikum. Die meisten merken das nicht, ein paar merken es. Aber er hat es wahrscheinlich nicht leicht gehabt mit mir als Vater. Mein Vater war Bäcker. Kein Zauberer.«
»Wollten Sie, dass er Ihre Nummer weitermacht?«
»Sind Sie verrückt!? Er sollte Arzt werden, ein Arzt in der Familie ist nie ein Fehler. Er wäre ein wunderbarer Arzt geworden. Als Zauberer ist er – na ja. Er ist schadenfroh. Er hält die Leute für blöd. Ich kann nichts dafür.«
Der beste Zauberer der Welt ist wohl schon tot. Der Junior ist eine in aller Welt gefragte Nummer. Einmal werde ich ihn mir wieder ansehen. Ich will ihm nicht unrecht tun.
Klavierspieler
Der Klavierspieler erwachte. Er hatte im Traum einen Ragtime spielen wollen, aber die linke Hand hatte immer ins Leere angeschlagen. Entweder waren da keine Tasten, oder sie klangen nicht. Ein fetter Mann erklärte, das sei seinen Gästen nicht zuzumuten. Da wurde der Klavierspieler panisch. Und wach.
Beim Wasserlassen merkte er, wie seine rechte Hand leicht zitterte. Wie verschwitzt er war. Es dämmerte ihm, was das für eine ungute Nacht gewesen war. Er hatte im »Logos« gespielt, im Solo. Auf diesem schon ziemlich zusammengedroschenen Stutzflügel, den er hasste, wie das »Logos« überhaupt. Weil dort die Leute so laut redeten, nicht zuhörten und fast so viel soffen wie er.
Er suchte im Kühlschrank nach etwas ganz besonders Kaltem. Er fand eine kalorienreduzierte Buttermilch. Sie widerte ihn an. Ihr Ablaufdatum war auch längst vorbei.
Gestern muss es wieder sehr schlimm gewesen sein, dachte der Klavierspieler. In den letzten Monaten wird es eigentlich immer schlimmer. Ich sauf mich schön langsam um meinen Verstand. Ein bisschen früh für meine fünfundzwanzig.
Ich rede schon wie mein Vater. Das ist doch zu blöd, wenn man zu sich selbst wie sein eigener Vater redet, mit den gleichen Worten. Aber andererseits, warum soll ich mir um mich nicht mindestens so viele Sorgen machen wie mein Vater? Ich
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