Die Socken des Kritikers
Abend
im Stadtsaal aus seinen Büchern lesen sollte. An der Rezeption fand er die Nachricht des Veranstalters vor, wann er zur Lesung abgeholt werden würde, und die Mitteilung, der Stadtrat für Kultur würde im Anschluss an die Darbietung in den
Goldenen Krug
bitten.
»Moment, jetzt hätte ich fast vergessen, wir haben auch noch ein Fax für Sie bekommen«, sagte der Mann an der Rezeption. Das Fax stammte vom Bruder des Erzählers.
Wieso faxt der mir?, fragte sich der Erzähler, der hat mir noch nie gefaxt, da muss etwas Entscheidendes passiert sein, es wird doch nicht … Der Anlass für das Telefax war kein tragischer. Niemand lag im Sterben. Der Anlass für das Telefax war eher komisch, jedenfalls las sich der Text so.
Zum ersten Mal seit Jahren erkenne ich in der Sprache meines Bruders so etwas wie geistige Verwandtschaft, dachte der Erzähler, der Hohn hat etwas Gestaltetes.
Der Erzähler erfuhr aus dem Fax seines Bruders: Ihr reicher Vater hatte öffentlich verfügt, der Großteil seines beträchtlichen Vermögens solle nach seinem Ableben einer
Stiftung zur Förderung humaner Technik
vermacht werden, als Gegenleistung wolle ihm die Stadtregierung in
Anerkennung dieser herausragenden Tat
und des Lebenswerkes an und für sich die Ehrenbürgerschaft verleihen. Die Überreichung der Ehrenbürgerurkunde solle demnächst im Rahmen einer stilvollen Feier erfolgen, er, der Bruder, sei beauftragt, alle Mitglieder der Familie zu diesem heiligen Anlass zusammenzutrommeln. Das Fax schloss mit den Worten: »Ich brauch das Geld nicht, und Du brauchst es nicht. Das ist für uns kein Thema. Aber haben wir uns nicht zu wundern über dieses Übermaß an Frechheit und Verlogenheit? Dennoch bitte ich Dich, komm. Ich könnte es dem Alten nicht beibringen, dass Du fehlst, warum Du fehlst. Du weißt, Argumentieren hat keinen Sinn. Er ist schon völlig zu. Da gibt es kein Rechts- und kein Unrechtsbewusstsein mehr. Wahrscheinlich glaubt er mittlerweile, er war Widerstandskämpfer. Bitte komm, wenn Du nur irgend kannst. Komm bitte. Mir zuliebe.«
Der Erzähler lag auf dem Hotelbett und las die Nachricht zum dritten Mal.
Was heißt, da gibt es kein Rechts-und kein Unrechtsbewusstsein mehr? Er hat doch noch nie eines gehabt! Der Erzähler zerknüllte wütend das Fax, dann glättete er es wieder.
Da würde sich also sein Vater, der alte, verlogene, ausbeuterische, tyrannische Nazi, hinstellen, würde ehrende Reden über sich ergehen lassen, mit bewegter Stimme danken, eine Urkunde entgegennehmen und sich dann von seiner Frau und seinen beiden Söhnen umarmen lassen, von den beiden Söhnen, mit denen er – so eine der launigen Bemerkungen beim anschließenden Festbankett – das eine oder andere Mal doch gewisse Schwierigkeiten gehabt hätte, über die er heute aber mit Stolz sagen könne, er sei froh, einen
erfolgreichen Unternehmer und einen anerkannten Künstler
herangezogen zu haben.
Der Erzähler sprang auf und ging ins Bad. Ihm war nach einer anarchistischen Pose des Widerstands zumute. Das Urinieren in die Waschschüssel schien ihm im Moment die einzige Möglichkeit. Er sah sich im Spiegel. Ein blasser, schwarz gelockter, wie man so sagt: interessanter Kopf sah ihm entgegen, alt nur unter den Augen, in den Augen jung.
Mein Bruder, der Bürger, der Spießer, der Kaffeesieder, sieht älter aus als ich, wesentlich, sagte er sich. Der hat nur mehr wenige Haare, ich habe noch alle. Ihm sind sie ausgegangen, nicht mir, was logisch gewesen wäre, weil ich ja denke und er nicht. Aber vielleicht sind ihm die Haare ausgegangen, weil er mit unserem Vater in derselben Stadt lebt. Das könnte ein Grund sein.
Wieder warf sich der Erzähler auf das Hotelbett und versuchte Erinnerungen zu verdrängen, was nicht gelang. Immer deutlicher baute sich vor ihm ein patriarchalischer Nazi auf, wesentlich undeutlicher daneben eine allzeit wehrlos dienende Frau.
Als Beherrscher
deutschen Eisens
für
deutsche Bauten
im Sinne
deutscher Werte
zum Zwecke
deutscher Siege
war ihm der Vater ins Bewusstsein getreten. Dann hatte er begriffen, dass einem Ingenieur, Techniker und Konstrukteur die Ideale in Trümmer gefallen waren, dann hatte er kurz Kleinmut und Angst miterlebt, aber daraufhin die Wiederkehr eines ausgewiesenen Könners, auf den auch
dieses Regime
nicht würde verzichten können. Die politische Vergangenheit war bald kein Thema mehr, das Wort
Entnazifizierung
hatte der Erzähler erst viel später kennengelernt.
Entscheidendes Leitmotiv
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