Die Socken des Kritikers
der Verlobten eines hoffnungsvollen jungen Bildungsbürgers, Sieg, Heirat und dann doch der Verlust der reuig in das Bürgertum Zurückkehrenden. Nein, diese Dreiecksfarce konnte man ein wenig durchschimmern lassen, um das Stück voranzubringen, aber was den jungen Künstler am Leben verzweifeln ließ, musste das sein, was der Talentierte auf seinem Gang über die eingenebelte Brücke immer empfunden hatte. Das war tiefer, entscheidender, zwingender.
Sinnlich erlebte der Talentierte, welche Lebensfreude es erzeugt, den Dämon lebensgefährdender Depression literarisch zu bannen und zwischendurch immer an die Verwendungsmöglichkeiten der zweiten Rate des Auftragshonorars zu denken. Das Einzige, was den Talentierten gelegentlich aus der Euphorie riss, war die Lautstärke, mit der die vermietende Eisenbahnerwitwe das Wunschkonzert des Regionalsenders zu hören pflegte. Es fiel ihm nicht immer ganz leicht, die Subtilität seiner Formulierungen gegen die Information,
vor einem Vaterhaus
habe eine
Linde
gestanden, zu verteidigen.
Der Talentierte war mit der Eisenbahn in die Hauptstadt gefahren, der Intendant hatte einen Urlaubsschein gönnerhaft unterschrieben. Der Talentierte war viel zu früh angekommen, aber er wollte vor dem vereinbarten Treffen mit seinem Mentor noch ausnützen, wie sehr die telefonischen Schilderungen seiner Chancen und Aktivitäten das Interesse der Grafikstudentin neu geweckt hatten. Sie hatte ihn vom Zug abgeholt, ihn in ihre Wohnung mit- und dort gleich in das Bett genommen. Jetzt wäre er wieder so wie früher, sagte sie, nicht mehr so angestrengt trübsinnig.
Danach machte sie sich mit Tetrachlorkohlenstoff über zwei Flecken her, die von Fettspritzern eines Frankfurter-Würstchen-Paares herrührten. Der Talentierte hatte in seiner fiebrigen Verfassung im Eisenbahnabteil derartig gierig hineingebissen, dass die Fontäne auch noch die Illustrierte in Händen einer indignierten Nachbarin erreicht hatte.
Die Grafikstudentin begleitete den Talentierten in das Kaffeehaus, in dem der sich mit dem Mentor verabredet hatte. Sie wollte ihm bis zu dessen Eintreffen Gesellschaft leisten und dann verschwinden. Der Talentierte meinte, sollte die Sache klappen, sollte dem Treatmentauftrag tatsächlich der Drehbuchauftrag folgen, könnte er sich vorstellen, den verhassten Theaterjob und die dazugehörende Stadt vorzeitig zu verlassen. »Warum sollte es nicht klappen?«, fragte die Grafikstudentin.
Der Mentor kam, freundlich und fahrig,
verbat
sich das Verschwinden der Freundin des Talentierten, man hätte vor schönen Mädchen grundsätzlich keine Geheimnisse, bestellte Kaffee und Kognak und bat, ohne lange Vorreden, im Manuskript lesen zu dürfen. Während er hektisch las, vorblätterte, zurückblätterte, den Schluss und dann wieder irgendwo querlas, bemerkte die Grafikstudentin den Schweiß auf der Stirne des Talentierten und tupfte ihn mit einer Papierserviette ab.
»Das ist es«, sagte der Mentor, »das ist es, genau das, ich bin selig. So machen wir es, so und nicht anders.« Er begann zu improvisieren, wie er diesen Film inszenieren würde, er beschrieb Bilder, simulierte Schnitte. Der Talentierte versuchte, sich alles einzuprägen, waren diese Details doch Elemente eines erst zu erstellenden Drehbuches. Nicht genug konnte der Mentor die Problemlösung loben, die Motivierung des Selbstmordes, in dieser Art sei er glaubhaft und dadurch der ganze Stoff von unglaublicher Dichte. Scherzhaft meinte er, es würde sich die Entgegennahme des einen oder anderen Preises nach Realisation wohl nicht vermeiden lassen.
Er betonte auch seine Dankbarkeit dem großen Satiriker gegenüber, dessen Tipp wäre wichtig gewesen wie selten etwas.
Dann wandte sich der Mentor der Grafikstudentin zu. Er wollte wissen, wie es sich lebte mit einem jungen, talentierten Menschen, der mit höchster Wahrscheinlichkeit vor einer großen Karriere stünde, er, der Mentor, würde als Mentor jedenfalls dafür sorgen wollen.
»Warten wir’s doch ab«, sagte die Grafikstudentin.
Der Mentor und die Grafikstudentin brachten den Talentierten zum Bahnhof. Alle strahlten aus, ihr Leben wäre in eine wesentlich bessere Phase gekommen. Der Fernsehmann hatte seinen Autor gefunden, der Talentierte seinen Mentor und das Mädchen einen wieder zu ertragenden Freund.
Mir geht es gut, dachte der Talentierte, allein in einem Abteil. Er hatte jetzt etwa zwei Stunden Zeit, darüber nachzudenken, wie es ihm ergangen war und wie es ihm ergehen
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