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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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Prominentenbegleitern. Er, der allzeit Wert darauf legte, für ein offenes Ohr gerühmt zu werden, wusste genau zu unterscheiden, bei wem es sinnvoll war, den Eindruck zu erwecken, nicht immer nur über sich selbst sprechen zu wollen.
    Der Talentierte erzählte von Stoffen, von literarischen Projekten und erzwang beim großen Satiriker eine gewisse Aufmerksamkeit. Denn der große Satiriker hatte allzeit den Ehrgeiz – deshalb sammelte er nach seinen Auftritten auch immer die Zechkumpane um sich –, alle zu kennen und von allen gehört zu haben. Dieses umfassende Bescheidwissen über alle und alles befähigte ihn zu der Rolle, in der er sich am wohlsten fühlte, der des Empfehlers. Das war nicht nur auf dem Gebiet der Bühnenkunst und anderer Künste so, auch in den Disziplinen wie gutem Essen, Wahlergebnis und Mundhygiene.
    Mag sein, dass an dem Interesse für noch unbekannte Größen auch ein gewisser kollegialer Argwohn beteiligt war.
    Nahe dem Fluss fragte der große Satiriker, wie es denn ein begabter junger Mann in dieser unsäglichen, nur zu ihrem Vorteil unsichtbaren Stadt aushielte. Der Talentierte verwehrte sich gegen die Unterstellung, es hier auszuhalten, und gab an, schon mehrfach über Sprünge von der Brücke ernsthaft nachgedacht zu haben. Der große Satiriker erwiderte, derartige Situationen gut zu kennen, und empfahl, mit dem entscheidenden Sprung noch zu warten.
    Irgendwann einmal war das Hotel gefunden. Als man zunächst vergeblich versuchte, den Nachtportier zu wecken, sagte der große Satiriker, er würde für den Talentierten etwas tun wollen, er wüsste schon, welchem Idioten, der starrsinnig behauptete, es gäbe keinen interessanten Nachwuchs, er wieder einmal beweisen würde, wie ahnungslos er wäre.
    Als der Talentierte nach Hause wankte, dachte er nicht daran, der Nacht mit dem großen Satiriker könnte etwas folgen. Aber er begriff, die Überlebenschance in dieser Stadt bestand in den Durchreisenden. Erst wenn es keine Durchreisenden mehr gäbe, würde seine Lage hoffnungslos sein, erst dann. Dann müsste er springen.
    Er fror erbärmlich. Er besaß zwar einen Wintermantel, trug ihn aus modischen Gründen aber nicht sehr gerne, bevorzugte einen seiner seelischen Verfassung entsprechenden literarisch-depressiven Trenchcoat. Der Herbst war kalt. Warum es trotz der Kälte so viel Nebel gab, ist leicht erklärt. Der Nebel war kein echter Nebel. Es war Industriesmog.
    Wie war er in diese Stadt und deretwegen zu einem Fachwissen über Selbstmordmotive gekommen?, fragte sich der Talentierte. Diese Stadt war ein Fehlgriff, ein lebensbedrohender Irrtum. Das ist das Gefährliche am Theater, dachte er, dass es unvermeidlicherweise von einer Stadt umgeben ist. Das Herz krampfte es ihm zusammen, als er an die Stadt davor dachte, die so schön gewesen war, die sie, die Freunde und er, verspielt hatten. Nur diese Smogsiedlung ist mir geblieben, dachte der Talentierte, und wenn ich jetzt über diesen, die Stadt teilenden, feindseligen Fluss gehe, dann springe ich nur deshalb nicht, weil ich heute mit einem Durchreisenden gesprochen habe.
    Die Stadt davor war eine schöne, helle Kurstadt gewesen, mit Sehenswürdigkeiten, die in der klaren Luft auch zu sehen waren, mit Bürgern, die man erkennen und als feindliche Gegenwelt definieren konnte. Es gibt ja für einen jungen Menschen nichts Schöneres, als bei klarer Luft durch eine Stadt zu gehen und sich bei jedem Entgegenkommenden zu denken: Das ist auch so ein Arschloch!
    Hier, in der neuen Stadt, waren die Bürger unsichtbar. Am Abend tauchten Abonnenten aus dem Nebel auf, verstellten im Theaterforum den Blick auf sich, verschwanden dann im Zuschauerraum. Im Stadtbild waren sie nicht wahrzunehmen. Man konnte sie weder frech noch feindselig betrachten. Das marterte den Talentierten.
    Wie hatte man das Theater in der schönen Stadt verspielen können? – Eine Intendanz war da gescheitert, die eine Ära hätte werden sollen, ein Theater der Freunde, denn man war als Clique hingekommen, als Truppe, als Verschwörung.
    So war man den Kulturbürgern der schönen Kurstadt gegenübergetreten. Die aber glaubten nicht daran, Theatergeschichte zu erleben. Sie forderten mit dem ablehnenden Urteil ihrer Meinungsmacher die Solidarität der Clique. Und da hatte der Talentierte zu erleiden, wie sich eine Mannschaft von Himmelsstürmern rund um einen hoffnungsvollen Jungintendanten in widerwärtige, opportunistische Intriganten auflöste. Als die Ära vorzeitig zu Ende

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