Die Socken des Kritikers
den Anschein hätte. Vor allen Dingen habe er den Verdacht, der Talentierte könne zu suizidalen Depressionen neigen, er habe bei manchen Formulierungen des Manuskriptes fast schon Angst um den jungen Menschen verspürt.
Die Grafikstudentin schwächte ab: »Da ist bei ihm viel Koketterie dabei, wenn er herumspinnt, von wegen
es hat ohnehin alles keinen Sinn
.«
»Nein«, sagte der Mentor, »Frauen unterschätzen ganz gern die Gefahr.« Und er begann von Schwierigkeiten zu reden, die er mit seiner Gefährtin zur Zeit hätte.
Dann wurden die Erinnerungen der Grafikstudentin noch lückenhafter. Es kam ein Mann ins Lokal, der sich als der große Satiriker entpuppte, der ihr, als sie meinte, jetzt gehen zu wollen, zwischen die Schenkel griff und sagte: »Du musst entschuldigen, ich hab mit ihm was zu reden, ich kümmere mich dann schon um dich.«
Später gab es noch eine Frau, von der sie nicht genau mehr sagen konnte, ob es die vom Mentor oder die vom großen Satiriker war, jedenfalls klatschten zwei, drei Ohrfeigen, wer sie wem verabreichte, sei ihr nicht mehr ganz bewusst.
»Ich bin dann«, beendete sie ihren Bericht, »auf die Toilette, hab mich im Spiegel gesehen, hab mir gedacht, na, du schaust aus, und bin dann einfach zum Taxistand. Mein Mantel hängt hoffentlich noch in der Garderobe.«
»Er wird vielleicht bös gewesen sein, wenn du grußlos abgedampft bist«, sagte der Talentierte.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er es noch bemerkt hat.«
Das ist eine andere Liga, in der sich das alles abspielt, dachte der Talentierte, als er wieder im Zug saß. Das ist Großstadt, das ist eine extremere Lebensform, das sind andere Typen. Nur Menschen dieser Art sind in der Lage, aus einem Jungen was herauszuhören, ihn zu entdecken, zu empfehlen, zu fördern. Er war von einigem Gepäck umgeben, wie er dasaß und seiner Karriere entgegenfuhr, obwohl er seine Bücher in einer Kiste mit der Bahnpost aufgegeben hatte. In Gedanken ging er zum letzten Mal über die eingenebelte Brücke und öffnete den Zippverschluss der Hose. Das ist auch in der Realität keine schlechte Idee, dachte er und ging auf die Zugtoilette.
Danach blätterte er in zwei Taschenbüchern, die er noch im Laden beim Bahnhof gekauft hatte. Es waren Drehbücher zweier Werke eines Meisterregisseurs. Was der Talentierte sich beim Lesen nicht bewusst machte, es waren nicht die Bücher, nach denen die Filme gedreht worden waren, es waren die Bücher, die man anhand der fertigen Filme dann für den Druck eingerichtet hatte.
Der Talentierte sah schon beim Einfahren des Zuges die Grafikstudentin am Bahnsteig stehen. Auch sie nahm ihn durch das Glas wahr und lief gleich ein paar Schritte mit dem langsamer werdenden Zug mit, um den Talentierten gleich beim Aussteigen umarmen zu können.
»Ich habe die Wohnung schon umgestellt, ich hab dir einen tadellosen Schreibplatz hergerichtet.«
»Bist du beim Zeichnen nicht zu beengt?«
»Nein, das müsste so klappen.«
Von ihrer Wohnung aus rief der Talentierte im Fernsehen an, um seinem Mentor die neue Lage der Dinge zu berichten. Dessen Sekretärin bedauerte, der Chef sei zwar heute da gewesen, aber vor ungefähr zwei Stunden außer Haus gegangen. Im Vertrauen gesagt, zum Tennisspielen.
Der Talentierte wollte die Grafikstudentin überreden, mit ihm auf die Zukunft anzustoßen, sie aber sagte, sie würde das heute nur tun, wenn es auch mit Milch gestattet sei.
Am nächsten Morgen hatten die Boulevardblätter die nahezu gleich lautende Schlagzeile
Freitod im Fernsehen
und darunter den Bericht, dass man den bekannten Leiter der Abteilung Fernsehspiel in der Garderobe der Tennishalle erschossen aufgefunden hätte. Er müsse sich, meldeten die Blätter, nach Spielschluss in der Toilette eingeschlossen haben, um dann, nächtens allein, seinem Leben ein Ende zu machen, nach Plan, denn die Pistole hatte er in seinem Tenniskoffer herumgetragen. Wegen des Motivs verwies die erste Seite auf das Blattinnere, wo ziemlich unverhohlen von einer Eifersuchtstragödie die Rede war: Ein Mann, der einem anderen Mann die Frau weggenommen hatte, wurde nicht damit fertig, sie wieder an den Vorgänger, mit dem ihn seit Jahren darüber hinaus ein berufliches Abhängigkeitsverhältnis verband, zu verlieren.
»Wer weiß, ob die im Fernsehen den Film jetzt überhaupt noch machen wollen«, sagte der Talentierte, der beim Frühstück keinen Bissen hinunterbrachte. »Der Mann, der schuld dran ist, dass ich jetzt hier sitze, hier bei dir,
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