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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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ging, als die Verträge nicht verlängert wurden, hatte der Talentierte dankbar zu sein über das Auftauchen des Theaterleiters dieser scheußlichen Industriestadt, dankbar zu sein, dass der sagte: »Sie gehören an ein anständiges Haus.«
    Und jetzt bin ich da, dachte sich der Talentierte, als er um vier Uhr morgens im Untermietzimmer einer alten Eisenbahnerwitwe eine Milchflasche öffnete und die Kälte gierig in sich sog. Jetzt muss ich morgen die Nummer 2 der Theaterzeitung in die Druckerei befördern, für ein Theater trommeln, das nur akustisch wahrnehmbar ist, weil es im Nebel keiner sehen kann.
    Der Talentierte hasste sein, wie er es nannte,
schlecht besuchtes
Untermietzimmer. Die Freundin, die in der Hauptstadt Grafik studierte, war ihm in die schöne Kurstadt des Öfteren nachgefahren, hier, in dieser Stadt, war sie erst einmal gewesen und hatte ihn im Streit verlassen. Die Stadt hatte ihr missfallen, aber mehr noch als die Stadt die negative Einstellung des Talentierten zur Stadt und seine nicht überwundene und immer wieder beklagte Enttäuschung über das Scheitern und den Verrat in der schönen Kurstadt.
    Meine Depression, dachte der Talentierte beim Einschlafen abermals, ist todbringend, interessante Durchreisende können dieses Ende nur hinauszögern.
    Ich hätte das Angebot annehmen sollen, im vom Theaterpersonal bevölkerten Theaterhaus ein Zimmer zu nehmen, zwar kann man unter Chorsängerfamilien den Selbstmord auf Dauer nicht vermeiden, aber es hätte in diesem Theaterhaus wahrscheinlich auch Tänzerinnen gegeben, oder Töchter von alten Chorsängerinnen. Ich werde meine Gedanken, die ich täglich habe, wenn ich vom Theater kommend den Fluss überquere,
Brückengedanken
nennen, ich werde sie dem großen Satiriker schicken, dann wird er nicht mehr so blöd fragen, wie ich es in dieser Stadt hier aushielte.
    Die Brückengedanken könnten ein Gedichtzyklus werden oder sich zum Monodram eines Talentierten steigern, der zum Schluss von der Brücke springt. Das wäre jedenfalls etwas für das
Kleine Haus
, aber mit dem Vollidioten von Intendant wird wohl nicht zu reden sein.
    Wie die meisten Selbstmörder,
die keine sind
, dichtete der Talentierte. Wobei es nicht leicht ist, die Formulierungen, die keine sind, einfach so hinzuschreiben, denn auf diesem Gebiet ist es schon zu bemerkenswerten Fehleinschätzungen gekommen.
    Der Talentierte schrieb, aber er schrieb nicht kontinuierlich und auch nicht an einem Werk oder an einer Art Werk. Er schrieb anfallsweise, er notierte mehr, als er schrieb, er formulierte Ideen, literarische Absichtserklärungen.
    Manchmal, wenn er mit den Theaterleuten soff, was sich auch der Einsamste gelegentlich gönnt, erzählte er in der Nacht von seinen literarischen Projekten. Immer in der Absicht, den Theaterleuten zu zeigen, er sei, auch wenn er mit ihnen söffe, keiner der Ihren. Beim Erzählen der Projekte kam es auf Grund verschiedener Zusammensetzungen der Runden zu Wiederholungen, so dass der Talentierte eine Fertigkeit im Erzählen seiner Projekte entwickelte.
    Gestern habe ich sehr gut erzählt, ich habe den großen Satiriker beeindruckt, dachte er, als er sich den löslichen Morgenkaffee ins heiße Wasser rührte. Ich habe hervorragend erzählt. Hoffentlich muss ich das Erzählte nie schreiben, denn dann bliebe wohl nur der Sprung von der Brücke.
    Jetzt aber, nach dem Gespräch mit dem Mentor, mit der fremden Romanvorlage, mit dem Liefertermin, mit der Verpflichtung, einen Selbstmord zu begründen, war alles anders geworden. Der Talentierte hatte jetzt zwei Wochen Zeit, um zu sein, was zu sein er vorgegeben sich gezwungen hatte, ein Schriftsteller. Und das konnte nicht schwer sein.
    Zunächst erkundigte er sich bei einem alten Spielleiter, der in seiner Vita irgendeine Filmdramaturgenstelle stehen hatte, nach Art und Wesen eines Treatments. Der, geschmeichelt, auch einmal etwas gefragt zu werden, gab ausführlich Bescheid, nicht ohne zu erzählen, welch unbedankte Mühe er sich als Geburtshelfer unbegabter Filmautoren gemacht hatte, bevor er sich endgültig für seine wahre Bestimmung, die Theaterprovinz, entschied.
    Dann saß der Talentierte vor seiner Schreibmaschine, die eingestrichene, mit Hinweispfeilen und Ablaufnummern der Verschachtelung versehene Romanvorlage neben sich, und ersetzte das Selbstmordmotiv mit der Souveränität des Fachmanns. Nein, das konnte, sollte der Stoff heute spielen, wirklich nicht so stehen bleiben: der sensible Mime, die Affäre mit

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