Die Socken des Kritikers
würde. Die Stadt, in die er jetzt fuhr, verlor ihren Schrecken. Die Vorstellung ihrer Unsichtbarkeit im Smog hatte nur mehr etwas Lächerliches. Dem Talentierten war, als würde er noch einmal eine schlecht gemalte und auch schon verschlissene Theaterkulisse vor sich sehen, auf die der Reißwolf schon wartet. Er begann sich Abschiedsszenen zu inszenieren. Er hüpfte auf einem Bein über die Brücke, um ihr seine Heiterkeit zu demonstrieren, er spuckte in hohem Bogen in den Fluss, genau die Welle treffend, die er anvisiert hatte. Es war kalt im Abteil. Aber so gewärmt hatte der Trenchcoat noch nie.
Das positive Lebensgefühl hielt an. Der Intendant sagte am nächsten Vormittag, der Talentierte solle versuchen, das schlecht übersetzte Lied im zweiten Akt des klassischen russischen Dramas ein wenig zu überarbeiten.
»Davon wird Ihre Scheißinszenierung auch nicht besser«, sagte der Talentierte.
Einige Zeit später erschien der Vertreter der Bühnengewerkschaft bei ihm und bedauerte, gegen diese fristlose Entlassung beim besten Willen nichts unternehmen zu können.
Der Talentierte ging nach Hause, brachte der Eisenbahnerwitwe mühsam bei, dass das Zimmer mit dem kommenden Ersten wieder zu vermieten sei, versuchte die Grafikstudentin anzurufen, erreichte sie aber nicht und begann zu packen. Er gestaltete das Einpacken als Tanz. Er drehte sich um die Achse, wenn er vom Schrank zum Koffer ging, und sagte »hepp!«, wenn er den kleinen Stoß Unterhosen in seinen Reisesack segeln ließ.
Als er später die Grafikstudentin erreichte, hatte er so gut wie gepackt. Er erklärte, er würde das Drehbuch nicht in dieser Stadt schreiben müssen, in freien Stunden und in der Nacht, nein, bei ihr würde er es schreiben, und es sei die glücklichste Zeit, die sie jetzt vor sich hätten. Sie widersprach dieser Annahme nicht. Sie erzählte, der Mentor hätte am vergangenen Abend auch noch die finanziellen Auspizien der Drehbuchautorenkarriere des Talentierten in imponierenden Zahlen dargestellt. Damit war sie – und so wurde das Telefongespräch sehr lang – bei der Schilderung des Abends im Anschluss an die Verabschiedung am Bahnhof.
»Wollen Sie nicht noch mit mir etwas trinken gehen«, hatte der Mentor sie eingeladen, »man kann in dem Lokal, das ich meine, auch eine Kleinigkeit essen.«
Die Grafikstudentin war durchaus interessiert, den Mentor ihres talentierten Freundes näher kennenzulernen.
Sie fuhren mit dem Taxi.
»Ich bin froh, dass sie mir meinen Führerschein für zwei Jahre abgenommen haben«, sagte der Mentor. »Es lebt sich leichter so.«
So eine Art Lokal hatte die Grafikstudentin noch nie gesehen. Es war ein sehr schicker Laden, eigentlich ein Club, aber doch mit einer gewissen Tendenz zum Puff. Der Mentor war mit dem Milieu wohlvertraut, mit dem Wirt per du, und hatte größtes Vergnügen daran, seiner Begleiterin zu erklären, wer wer sei und wer sich hier gern mit wem träfe. Er genoss es, von anerkennenden Blicken gestreift zu werden: Eine so junge, in der Szene unbekannte Begleitung hatten Männer hier selten zu bieten.
Der Mentor musste sein Getränk gar nicht bestellen, er bekam eine Flasche Whisky automatisch vor sich hingestellt.
»Sie werden wahrscheinlich etwas anderes trinken wollen«, sagte er. Sie aber hatte Lust, sich auf alles, was ihr neu war, einzulassen.
»Vielleicht ein Wasser dazu, aber ich trink gerne auch einmal einen Whisky.«
Sie war sehr bald betrunken, wie sie im Telefongespräch mit dem Talentierten auch offen zugab, daher brachte sie die Begebenheiten des Abends nur mehr als einzelne Bilder, nicht mehr im Ablauf zustande. Hinter der Theke des Lokals stand eine sehr schöne Frau, die Frau des Wirtes, mit der schien der Mentor etwas zu haben, irgendwann einmal sagte der Mentor, ob er die Telefonnummer der Grafikstudentin erfahren und an den Wirt weitergeben dürfe, der hätte Interesse, sich einmal zu melden. Die Grafikstudentin nannte die Nummer, der Mentor gab sie an den freundlich nickenden Wirt weiter, es war aber nicht ihre Nummer, sondern die der Kunstakademie. Dann sagte der Mentor, beiden wieder nachschenkend, ob er sich etwas näher setzen dürfe, und rückte mit seinem mit rotbraunem Leder bezogenen Clubfauteuil nah heran.
»Man muss sonst so laut reden, die Musik ist ja viel zu laut, aber was ich jetzt sagen will, das soll außer Ihnen keiner hören.«
Und er begann zu erzählen, er stünde dem Talentierten nicht ganz so unkritisch gegenüber, wie es vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher