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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers
Autoren: Werner Schneyder
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Erschöpfung fähig, völlig leer.
    »Du könntest jetzt wieder ins Theater schneiden«, schlug sie vor, »in die Garderobe.«
    Im Zuge der Eifersuchtstragödie nennt der Sohn der Prinzipalin nach mehreren Beleidigungen durch den Sohn des Bierbrauers diesen einen
stinkenden Biersieder
und auch noch
Sohn eines stinkenden Biersieders
. Während des Bürgermeisters Töchterchen für die Benefizvorstellung probt, soll der Gemeinderat schon die Ausweisung der Truppe verfügen.
    Von der Logik her musste jetzt die Tochter des Bürgermeisters den Sohn des Bierbrauers dazu bringen, zu erklären, nicht beleidigt worden zu sein. Das Problem des Autors war, alle Initiativen bei der Prinzipalin zu belassen, denn ohne die permanente Regie dieser Figur, ohne ihre Anweisungen für andere, würde die abschließende Begeisterung der großen alten Dame von Film und Fernsehen mit Sicherheit nicht zu erzwingen sein.
    Zehn Minuten vor sieben wurde gelocht und abgeheftet.
    »Wasch dich ein bisschen, du stinkst«, sagte die Freundin.
    Der junge Mann rief ein Taxi. Auf der Fahrt zum Bahnhof fiel ihm ein, er besaß keinen Durchschlag des Drehbuchs. Er musste das Original weggeben. Ich werde die Agentin sofort um eine Kopie bitten, dachte er. Auf dem Bahnhof erfuhr er, die angenommene Abfahrtszeit des Zuges stammte noch aus dem Winterfahrplan, zur Zeit gelte der Sommerfahrplan. Der Zug war demnach dahin.
    Der junge Mann trat auf den Bahnhofsvorplatz. Um ihn, der alles wie durch ein Glas sah, bewegte sich der Morgenverkehr, eine andere Menschheit. Fast alle waren vor kurzem erst aufgestanden, nur zwei Penner gaben dem jungen Mann das Gefühl, dieser Erde anzugehören.
    Er war noch nie in seinem Leben eine längere Strecke mit dem Taxi gefahren, zwang sein Hirn aber zur Entscheidung, dies sei die einzige Lösung des Problems. Er fragte den Taxifahrer – es stand nur ein Wagen da – nach dem Fahrpreis. Der nannte einen Betrag. Der junge Mann zählte und musste bedauern, diesen Betrag nicht ganz bei sich zu haben. Der Taxifahrer fragte, wie viel fehlte. Es fehlte nicht sehr viel. Dem Taxifahrer war langweilig: »Steigen Sie ein!«
    Der junge Mann wollte während der Fahrt wissen, ob man den Bahnhof zu der Zeit, zu der der um soundso viel Uhr nicht abgefahrene Zug hätte ankommen müssen, erreichen würde.
    »Das müsste zu schaffen sein«, sagte der Taxifahrer und stieg aufs Gas. »Die Strafe zahlen Sie!«
    Der junge Mann nickte.
    Der Bahnhof wurde gerade noch zur richtigen Zeit erreicht. Dennoch war die Agentin, die für ihr prächtig modisches Kostüm wirklich ein wenig zu dick war, ungnädig. Dass der junge Mann nicht wie abgesprochen aus dem Zug gestiegen war, sondern aus Richtung Bahnhofshalle kam, passte nicht in ihre Vorstellung von professioneller Präzision. Sie nahm das Drehbuch entgegen und bejahte die Bitte nach einer Kopie flüchtig. Sie habe es eilig, dieses Projekt sei ja nicht das einzige, was sie jetzt gleich auf dem Flughafen mit der großen alten Dame von Film und Fernsehen zu bereden hätte.
    Der junge Mann stand allein da und versuchte seine Gedanken in eine logische Folge zu bringen. Er wollte wieder nach Hause, so viel stand fest. Fahrgeld hatte er keines, das stand auch fest. Ein Zug fuhr erst in einer guten Stunde, das stand auch fest. Die verbliebene Barschaft reichte für drei Biere, das stand auch fest. Es gab nur die Chance, schwarzzufahren, das stand auch fest.
    Der junge Mann trank im Bahnhofsrestaurant drei Biere und nahm, wann immer er einzuschlafen drohte, noch einen Schluck gegen die Müdigkeit. Dann kroch er in den Zug, er hatte sich den richtigen Bahnsteig während der Wartezeit ständig vorgesagt, stellte sich auf den Gang, besuchte kurz nach Abfahrt das erste Klo und wechselte das Klo dreimal. Auf dem dritten Klo fiel ihm ein, er hätte ja nur das Taxi warten lassen müssen, denn der Taxifahrer sei ja zurückgefahren, er hätte ihn jedenfalls mitgenommen, die Rückfahrt sei ja schließlich bezahlt gewesen. Da bekam der junge Mann Angst. Ich bin nicht so gescheit, wie ich glaube, schoss es ihm ins Hirn, ich bin wahrscheinlich unbegabt, ein Trottel. Wieso stehe ich hier sinnlos in einem Klo herum?
    Durch einen Klangnebel, in den sich der Applaus für eine Wanderbühne gemischt hatte, hörte er: »… fährt in Kürze auf Gleis drei ab.« Er sah auf. Es war sein Zielbahnhof. Er kam gerade noch aus dem Zug, ging vom Bahnhof im Gehen schlafend nach Hause, fand seine Freundin im Kommunikationszentrum wie tot vor,
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