Die Söhne der Wölfin
doch immerhin hatte man den Griechen, deren Zahl immer größer wurde, gestattet, ihn nicht weit vom Hafen entfernt zu bauen. Die Zahl der Priester belief sich nur auf sieben; sie waren über Ilian unterrichtet worden, und nach dem Austausch einiger Floskeln und Schriftrollen nahm man sie und ihre Begleitung auf, nicht ohne einen neugierigen Blick auf den Korb mit den Fischen und den Gewürzen zu werfen.
»Ich bin dankbar für eure Gastfreundschaft, Freunde«, erklärte Ilian ehrerbietig, »doch weiß ich, jeder Anfang ist schwer und der Dienst an Apollon in einem fremden Land desgleichen. Also möchte ich eure Großzügigkeit nicht über Gebühr ausnutzen und bitte euch vielmehr, mir zu gestatten, euch heute abend zu bewirten.«
Es war nicht zu übersehen, daß die in der Tat mager wirkenden Apollon-Priester kaum protestierten. Ulsna blieb nicht lange; es war an ihm, im Hafen nachzuforschen, ob eines der Schiffe, über die der vom Erfolg gesegnete Arion inzwischen verfügte, vor Anker lag.
»Soll ich den Jungen mitnehmen?« fragte er Ilian.
Sie schüttelte den Kopf.
»Bist du sicher? Er...«, zögernd suchte er nach den richtigen Worten, »macht nicht den Eindruck, als sei er dir schon wieder gewogen.«
»Das ist er nicht. Aber er wird nicht weglaufen.«
Sie mußte es wissen; sie hatte Monate mit dem Kind verbracht. Ulsna wartete noch, bis sein eigenes Pferd abgesattelt, gefüttert und getränkt war, dann brach er in Richtung Hafen auf, nicht ohne einen beunruhigten Blick hinter sich zu werfen.
Für Remus glich die Wirklichkeit inzwischen einem Gestrüpp voller Dornen wie das, welches er, der Vater und Romulus im Winter um alle Koben und Ställe legten, um die Wölfe fernzuhalten. Man konnte sich nicht bewegen, ohne sich blutig zu kratzen.
Vater und Mutter schuldete man Gehorsam und Ehrerbietung; außerdem war er so froh gewesen, als die Mutter zurückkehrte und sie endlich eine Familie wie alle anderen wurden. Trotz ihrer Eigenarten fiel es ihm leicht, die Mutter zu lieben, und er verstand nicht, warum Romulus sich damit so zierte, bis sie alles zerstörte. Er würde sich ja an die Möglichkeit klammern, daß sie log, doch eine Lügnerin hatte der Vater sie nicht geheißen. Das nicht.
Also war der Vater nicht der Vater, und diese Wahrheit allein schmeckte bitter wie Galle. Er wünschte sich, er könnte mit Romulus darüber sprechen, doch sein Bruder war inzwischen so weit fort wie die glücklichen Tage seiner Kindheit, ehe sie in ihrer aller Leben trat.
Die Neuigkeit, sein wahrer Vater sei der Kriegsgott, war nicht viel besser. Er fühlte sich keineswegs göttlich, er fühlte sich elend, wenn er an das zerfurchte Gesicht des Vaters dachte, als sie ihre grausamen Worte sprach. Wenn er ein Halbgott war, wie viele der Helden in den Geschichten, warum konnte er dann die letzte Woche nicht ungeschehen machen? Oder besser noch, alles, was seit ihrer Ankunft geschehen war? Er wünschte sich, er hätte sie nie kennengelernt, denn nun, da er sie einmal kannte, gab es keinen Ausweg mehr vor dem Gewirr, in dem sich seine Gedanken immer wieder verliefen.
Seine Mutter. Keine Wölfin, wie die anderen Kinder gespottet hatten, wenn sie den empfindlichen Romulus necken wollten, sondern eine Königstochter der Tusci, eine Priesterin, die Kinder von einem Gott bekommen und sie verlassen hatte, nur um mit Geschenken, trügerischer Zuneigung und bösen Wahrheiten beladen zurückzukehren und eines der Kinder zu entführen. In seine Enttäuschung mischte sich ein Hauch von unbestimmbarer Ehrfurcht.
Der Gedanke, fortzulaufen und zum Vater und zu Romulus zurückzukehren, kam ihm mehr als einmal. Die Gründe, aus denen er es nicht tat, lagen ihm so schwer im Magen wie alles andere und bildeten ein Knäuel, das er selbst nicht entwirren wollte. In seinem Kern ruhte ein kalter, schwarzer Klumpen, den er niemandem gegenüber je benennen würde: Angst. Er hatte nie Angst vor einer Rauferei gehabt, aber er hatte Angst vor dem, was sie tun würde, wenn er fortlief. Was genau er fürchtete, ob nun noch mehr schlimme Wahrheiten oder die Macht, die sie über Blitze und Sterne hatte und an die er nun glaubte, wußte er nicht zu sagen. Aber er fürchtete sie.
Dann gab es noch die traurige Feststellung, daß der Vater nicht darum gekämpft hatte, ihn bei sich zu behalten, was alle Arten von Zweifel in ihm auslöste. Vielleicht war der Vater im Grunde froh, sich um einen Sohn, der in Wirklichkeit nicht der seine war, nicht mehr kümmern zu
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