Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
müssen. Wenn Remus dergleichen dachte, schalt er sich unmittelbar darauf einen Narren.
    Der Vater liebte ihn, er liebte sie beide. Er war stolz auf Remus und hatte erst kürzlich Pompilius gegenüber geprahlt, in ein paar Jahren werde sein Junge jeden Wettkampf im Dorf gewinnen. Natürlich liebte der Vater ihn.
    Aber er hatte nicht um ihn gekämpft, und das zehrte jedesmal an Remus, wenn er den Gedanken zuließ.
    Sie, seine Mutter, wollte ihn dagegen offensichtlich bei sich haben. Er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als sie nach dem Grund zu fragen. Mehr als einmal stand er jedoch kurz davor, den Barden darauf anzusprechen. Der Barde war nicht so schlimm. Er würde eines Tages dafür bestraft werden müssen, daß er dem Vater das Messer an die Kehle gehalten hatte, doch er ging freundlich mit seinem Pferd um, das mußte man ihm zugute halten. Und er stellte den einzigen Puffer zwischen Remus und der Mutter dar.
    Als der Barde daher das große Haus wieder verließ, in das sie gekommen waren, spürte Remus den ungewohnten Angstklumpen in sich nochmals anwachsen. Die meisten Gebäude hier waren größer als die im Dorf, fast alle aus Stein, und sogar auf den Dächern lagen weitere aus Lehm geformten Steine. Das, in dem er sich nun allein mit ihr und einigen weiß gewandeten Männern, die so hellhäutig waren, daß sie ihre Tage gewiß nicht wie andere Männer auf den Feldern verbrachten, wiederfand, hätte des Vaters Haus mehrmals in sich aufnehmen können. Er war froh, die neuen Schuhe zu tragen, denn der Stein überall im Inneren, wo die Sonne nicht hinschien, fühlte sich kalt an. Ein heller Stein, hell wie die fremden Männer.
    »Es ist Marmor«, sagte seine Mutter, als sie ihn mit der Hand an einem der runden Pfeiler ertappte. »Wir bauen unsere Tempel aus rotem Ziegel, doch die Griechen ziehen seit einigen Jahren Marmor vor. Sie glauben, daß sogar die Paläste ihrer Götter auf dem Olymp aus Marmor bestehen, und halten den Sandstein, den sie früher benutzten, für nicht mehr gut genug.«
    Mit einer jähen Gewißheit wußte Remus, daß Romulus jetzt gefragt hätte, ob sie das nicht bestätigen oder verneinen könne, bei ihrem Umgang mit den Göttern. Das war die Art von Bemerkung, die Romulus mit seiner scharfen Zunge machte. Es war die Art Bemerkung, die Remus höchst selten einfiel, und meist erst dann, wenn die Gelegenheit schon vorüber war. Er verlieh seinem Ärger gewöhnlich auf andere Weise Ausdruck. Doch die Hand gegen seine Mutter zu erheben war unmöglich, und er brachte es nicht fertig, die Bemerkung zu machen, die ihm auf der Zunge lag. Das war nicht seine Art. So wollte er nicht sein.
    »Er ist kalt«, entgegnete er daher nur kurz angebunden.
    Sie zuckte die Achseln. »Nun, für die Herdstelle haben sie zum Glück Backstein verwendet. Komm, wir müssen langsam damit anfangen, die Fische auszunehmen.«
    Eigentlich wollte er ihr noch immer nicht helfen, doch es gab ihm etwas zu tun, das ihn vom Nachdenken ablenkte. Fische ausnehmen, das konnte er, das war vertraut, selbst wenn es die Fische aus dem Meer nicht waren. Auf einem anderen Holzbrett hatte sie die Zwiebeln, den Liebstöckel, die Brennesseln und das Mehl ausgebreitet, die sie ebenfalls eingehandelt hatte. Das einzige, was die Weißgewandeten zur Verfügung stellten, waren zwei bemalte, mit Pech versiegelte Krüge sowie ein offener mit Wasser darin. Warum die Krüge mit allerlei schwarzen Figuren bemalt waren, leuchtete ihm nicht ein, aber während er die Fische zerlegte, ertappte er sich bei dem Versuch, ihre Bedeutung zu enträtseln. Einige Gestalten waren Männer mit Schwertern, soviel erkannte er sofort, doch andere glichen Pferden mit Menschenköpfen, und davon hatte er noch nie gehört.
    »Die Bilder erzählen eine Geschichte«, sagte seine Mutter, und er fragte sich erschrocken, ob sie seine Gedanken lesen konnte oder ihn die ganze Zeit beobachtete, »vom Kampf der Lapithen und Zentauren. Der größte Held der Griechen, Herakles, war zu einer Hochzeit geladen, bei welcher der Bräutigam ein Zentaur und die Braut eine Lapithin war. Es sollte die beiden Völker miteinander versöhnen, doch statt dessen brach ein fürchterlicher Streit aus.«
    »Was ist ein Zentaur?«
    »Ein Geschöpf, halb Mann, halb Pferd.«
    Remus schaute wieder zu den schwarzen Gestalten auf rotem Grund und überlegte, ob es sie dort gab, wohin seine Mutter mit ihm reisen wollte. So ein Geschöpf würde er wirklich gern einmal sehen. Ob man auf einem Zentauren

Weitere Kostenlose Bücher