Die Söhne der Wölfin
Stirn.
»Was soll denn an unseren Sitten streng sein?«
Da das Kind inzwischen wieder mit seiner Mutter sprach, machte Ulsna nur eine unbestimmte kleine Gebärde und lenkte das Gespräch auf das Schiff, während Remus hungrig das Essen in sich hineinschaufelte.
»Die Andromeda «, sagte er, gleichermaßen an Mutter und Sohn gewandt, »ist ein schönes neues Schiff. Zwölf Ruder an jeder Seite. Viel größer«, setzte er mit einem leichten Lächeln hinzu, »als damals die Kassiopeia . Du wirst Platz zum Rennen haben, Junge.«
»Xanthos auch?«
»Wer ist Xanthos?«
»Sein Pferd«, erwiderte Ilian und klang beunruhigt. »Remus, so viel Platz ist auf keinem Schiff. Man kann ein Pferd nicht über das Meer mitnehmen.«
Er stieß seinen Löffel in die Schale, aus der er aß.
»Du kannst mir Xanthos nicht auch noch wegnehmen!«
»Remus«, sagte Ulsna rasch, weil er befürchtete, daß Ilian auf ein trotziges Kind nicht besser als beim letzten Mal reagieren würde, »deine Mutter ist keine arme Frau jenseits des Meeres. Du wirst ein neues Pferd haben, wer weiß, vielleicht sogar eines aus Nubien, und von dort stammen die herrlichsten Pferde der Welt.«
»Ich will kein neues Pferd. Ich will Xanthos!«
Wenn die Nachbarn mit Faustulus über seine Söhne sprachen, rühmten sie nicht nur Remus’ Stärke, sondern auch seine stete gute Laune und seine Ausgeglichenheit. Davon spürte Remus im Moment nichts in sich. Er hatte seinen kritischen Punkt erreicht, und die Tränen, die er seit dem entsetzlichen Streit daheim mit Gewalt zurückgehalten hatte, seit er seines Zuhauses, seines Bruders und seines Vaters beraubt worden war, brachen sich endlich Bahn. Er sprang auf, griff nach dem Eimer, in den seine Mutter die Abfälle geworfen hatte, und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen die Wand, während er gleichzeitig schrie: »Ich hasse dich!«
Widersinnigerweise beruhigte es Ulsna, daß Ilian daraufhin nicht versteinerte, sondern vollkommen ratlos auf ihr schluchzendes und brüllendes Kind schaute. Was auch immer sie als nächstes tun würde, es würde nicht von ihrer Gabe, zu verletzten, getragen werden. Nicht, daß er selbst einen Vorschlag zu machen hätte. Ihm waren Kinder, die einem Tobsuchtsanfall erlagen, so wenig vertraut wie Ilian. Ganz offensichtlich war ihr dieses Verhalten bei dem Jungen auch noch nicht untergekommen, und sie wußte nicht, wie sie ihm begegnen sollte. Ulsna wäre von seinem Meister grün und blau geprügelt worden, hätte er sich dergleichen geleistet, doch das war kaum ein geeigneter Weg. Was Ilian mit ihrer Kindheit halb im Palast, halb im Tempel betraf, so war er bereit zu wetten, daß ihr kindliche Wutanfälle ebenfalls nicht gestattet worden waren. Auf ihren gemeinsamen Reisen hatten sie mancherlei gelernt, doch nicht das Betreuen von Kindern. Allerdings versuchte sich Ilian nun schon ein paar Monate in dieser Kunst; er erwiderte ihren ratlosen Blick mit einer Grimasse, die besagte, sie müsse doch wohl besser Bescheid wissen.
Schließlich erhob sich Ilian, ging zu Remus und legte ihm zögernd die Hände auf die Schultern. Er wollte sich sofort losmachen, doch sie verstärkte ihre Umarmung. Ulsna schob seinen Stuhl zur Seite und stand ebenfalls auf. Remus war noch ein Kind, aber ein ausgesprochen großes und kräftiges, dem er zutraute, Ilian durchaus verletzten zu können, wenn der Junge es darauf anlegte.
»Laß mich los«, keuchte Remus.
Sie war größer als er, was ihn nicht gestört hätte, war er doch nie vor Kämpfen auch mit größeren Jungen zurückgewichen. Doch die Arme, die nun von seinen Schultern hinter seinen Hals glitten, waren nicht die eines Jungen oder eines Mannes, sondern die einer Frau, seiner Mutter. Als er das letzte Mal einem Mädchen einen heftigen Stoß versetzt hatte, war er vier Jahre alt gewesen. Und die Hand gegen ein Elternteil zu erheben war undenkbar. All seine Gewißheiten bröckelten von ihm ab, und er klammerte sich an das, was noch übrig war. Eltern gebührte Verehrung, so hatte der Vater es ihn gelehrt, doch der Vater war nicht der Vater und mit jedem Tag weiter fort, Romulus desgleichen, genauso wie all ihre Tiere, die Freunde, die Menschen, die etwas anderes als Tusci oder sonst ein unverständliches Kauderwelsch sprachen. Xanthos war das einzig Gute, was ihm noch geblieben war, und er schluchzte seine Verzweiflung an der Brust der Person aus sich heraus, die ihm alles weggenommen hatte - weil sie da war, weil sie ihn nicht losließ und weil er
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