Die Söhne der Wölfin
aus, mit ihrem zum Zopf geflochtenen Haar, aus dem sich ein paar widerspenstige Locken gelöst hatten.
Sie ließ sich ihre Gedanken nicht anmerken. Statt dessen zauberte sie ein Lächeln auf ihre Lippen, erhob sich von ihrer Liege, öffnete die Arme und hieß Ilian willkommen. In gewisser Hinsicht befriedigte es sie sogar, daß Ilian einen ihrer früheren Ratschläge befolgt und selbst Duftwässer benutzt hatte. Sie roch Veilchen, als sie ihre Wange gegen Ilians drückte, und empfand es als passend.
»Prokne«, sagte Ilian, nachdem sie sich von ihr gelöst hatte, »dies ist mein Sohn Remus.«
Der Junge trat vor und wirkte noch verlegener als der Tempelnovize. Er besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit Ilian, doch nun, da Prokne ihn näher in Augenschein nahm, fielen ihr die Unterschiede stärker auf, angefangen bei den Augen, die trotz der Verlegenheit eine Unschuld und Offenheit hatten, die sie bei Ilian nie wahrgenommen hatte. Stirn und Wangenknochen waren breiter angelegt, desgleichen das Kinn, so daß das Gesicht weniger herzförmig, wie bei Ilian, als oval mit einer gewissen Neigung zum Runden wirkte. Die Größe des Jungen war erstaunlich; schließlich konnte er nicht älter als - rasch rechnete sie nach - zehn Jahre höchstens sein. Wenn er in dieser Geschwindigkeit weiterwuchs, würde er ein eindrucksvoller Mann werden.
»Sei gegrüßt«, sagte er mit einem viel grausameren Akzent, als ihn Ilian und ihr Barde bei ihrem ersten Besuch gehabt hatten, aber Prokne war zu selbstbeherrscht, um darüber zusammenzuzucken.
»Sei gegrüßt, Remus«, erwiderte sie freundlich. Ilian räusperte sich, und Prokne fiel ein, daß der Barde vermutlich ebenfalls irgendwo herumstand. Sie erspähte ihn an der Schwelle ihres Gemachs und schenkte ihm ein herablassendes Nicken. Es entzog sich ihrem Verständnis, warum Ilian immer noch mit ihm umherzog. Gewiß, er spielte gut und hatte eine schöne Stimme, doch dergleichen fand man überall. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß er als Leibwächter etwas bewirkte, und was das Aussehen betraf, so befand sich der Unglückselige in dem Niemandsland der Unscheinbaren, nun, da der Schmelz der Knabenhaftigkeit dahin war, wenn man im Fall von Ulsna denn überhaupt von Knabenhaftigkeit sprechen konnte.
Nach ein paar weiteren Worten stellte sich heraus, daß der Junge das Griechisch, das er beherrschte, offenbar erst auf der Überfahrt gelernt hatte und daher nur über einen sehr begrenzten Wortschatz verfügte.
»Ich habe Remus von deinen Katzen erzählt«, sagte Ilian, »und er würde sie gern sehen, denn er kennt Katzen noch nicht. Darf Ulsna sich mit ihm auf die Suche nach ihnen machen? Schließlich weiß Ulsna hier Bescheid.«
Prokne gab ihre Einwilligung und fragte sich, ob das mit den Katzen ein Hinweis darauf sein sollte, daß sie Ilian diese Tiere verdankte. Früher war es schlichtweg verboten gewesen, Katzen aus Ägypten zu entfernen; seitdem die Nubier ins Land gekommen waren, war das Verbot aufgehoben worden, doch es fand sich immer noch kaum ein Ägypter, der bereit war, einem Fremden eine Katze mitzugeben. Daß Ilian ihr von ihrer letzten Reise zwei Katzenjunge mitgebracht hatte, bewirkte, daß Prokne in Korinth noch mehr beneidet wurde, als es ohnehin schon der Fall war. Überdies entdeckte sie aufrichtige Zuneigung zu den Tieren, als sie herausfand, daß sie nicht nur niedlich aussahen, sondern sich auch nützlich machten und Mäuse vertilgten. Bisher hatte sie wie jeder andere Schlangen zu diesem Zweck halten müssen. Seltene ägyptische Tiere, die hübsch aussahen, schnurrten und viel innere Ruhe ausstrahlten, waren dem erheblich vorzuziehen.
»Du willst die Katzen nicht wieder mitnehmen, oder?« fragte sie argwöhnisch, als Ulsna mit dem Jungen verschwunden war.
»Aber nein. Remus ist vernarrt in alle Arten von Tieren, und ich wollte mit dir über ihn sprechen.«
»Meine Liebe, ich bin wohl kaum die geeignete Quelle in Kinderfragen«, erwiderte Prokne und spürte einen Hauch des Bedauerns. Sie hatte sich Kinder nie leisten können und würde ihr Leben gewiß nicht mit dem einer ständig schwangeren Ehefrau eintauschen wollen, doch manchmal, wenn die Tage ihr lang wurden, hing sie den Gedanken an gewisse Unmöglichkeiten nach.
»Ich werde vorerst nicht nach Ägypten gehen können«, fuhr Ilian unbeirrt fort, als habe sie den Einwand nicht zur Kenntnis genommen, »und er braucht andere Lehrer als nur mich oder Ulsna und die Gesellschaft anderer Kinder. Soweit ich
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