Die Söhne der Wölfin
Assyrer werden ihre Truppen nicht noch einmal schicken. In Niniveh braut sich genügend Zwist zusammen, ich habe es erlebt. Ich werde geduldig sein und ihnen Tribut zahlen, bis sie zu zerstritten sind, um über ihre Grenzen hinauszublicken. Bis dahin wird Ägypten wieder stark und mächtig sein. Mein Ägypten, Ilian. Die beiden Länder wieder vereint, und keine Nubier, keine Assyrer, nur die Abkommen der Götter auf dem Thron.«
»Aber«, fragte Ilian, »werden die Götter den Preis verstehen, den du zahlen mußtest?«
Er winkte sie näher und senkte die Stimme. »Das ist es, was meine Träume plagt. Das Orakel Amons weigert sich, mit mir zu sprechen. Es ist gut, daß du hier bist, Ilian. Geh zu ihnen. Sie haben dich einmal aufgenommen. Vielleicht tun sie es wieder. Und wenn sie es tun, verkünde ihnen, dies sei der Wille meiner Majestät: Versöhnung mit den Dienern der Götter. Weisen sie mich jedoch immer noch zurück, dann sage dies: Es gibt noch andere Götter, die ihre Macht bewiesen haben in den zwei Ländern. Und andere Diener dieser Götter.«
Er ist mehr als erwachsen geworden, dachte Ulsna. Er hat von ihr gelernt, mit Göttern zu handeln. Aber wenn sie dergleichen sagt, werden die Priester gewiß sie verdächtigen, sich an ihre Stelle setzen zu wollen, und ihren Ingrimm an ihr auslassen. Ich frage mich, ob ihm das klar ist.
Ein weiterer Blick auf Psammetich, der inmitten der rauchgeschwärzten Räume in seiner makellosen Gewandung seltsam fehl am Platz wirkte, und Ulsna war sich sicher, daß der Fürst sehr wohl wußte, welche Konsequenzen sein Tun für Ilian haben mochte. Er konnte nur gewinnen, ganz gleich, ob es ihr gelänge, ihm die Priesterschaft wieder zu versöhnen oder in deren Augen als Rivalin und eigentliche Verantwortliche für den Frevel des Königs dazustehen. Nicht, daß es Ilian überraschen würde. Sie hatte nie geglaubt, daß Zuneigung und das Ausnutzen von Freundschaft einander ausschlossen.
»Wie deine Majestät es wünscht, so wird es geschehen«, sagte Ilian respektvoll und verneigte sich ein weiteres Mal. Ulsna tat es ihr gleich und schickte sich an, mit Ilian den Raum zu verlassen, als Psammetichs Stimme ihn zurückhielt.
»Ulsna«, sagte der Herrscher Ägyptens, »in diesen Tagen der Last und der Trauer wünscht meine Majestät, abgelenkt zu werden. Bleibe, Barde, und singe für mich, bis Ilian zurückkehrt. Ich werde dir deine Instrumente bringen lassen.«
Meinte er das ernst, überlegte Ulsna, oder war das eine Art Rückversicherung für Ilians Verhalten, um sicherzustellen, daß sie auch wirklich ihr Bestes tat? Doch nein, dergleichen war unnötig; Psammetich mußte wissen, daß Ilian ohnehin ihr Möglichstes geben würde. Er schaute von Ilian zu Psammetich und sehnte sich zurück nach der Zeit der Unschuld, in der er einfach nur davon ausgegangen wäre, daß Psammetich nichts anderes meinte als das, was er sagte: daß er in einer schweren Zeit Ablenkung brauchte, und das von jemandem, der ihn als Mensch und nicht nur als Herrscher erlebt hatte.
»Wie du wünschst, Herr«, murmelte er. Ilian drückte ihm rasch die Hand, dann ging sie. Er hörte ihre Sandalen auf dem steinernen Fußboden klappern und hoffte, daß sie heil und gesund wiederkommen würde.
Neter-Nacht, Hüter des Orakels, stand vor der Statue im Allerheiligsten des Tempels. Heute, wie an jedem anderen Tag, mußte sie gewaschen und gekleidet werden. Doch er bezweifelte, daß selbst die kostbare Myrrhe, die er verbrannte und die Amon teurer war als die anderen Düfte, den kalten Rauch des Feuers aus der Nase des Gottes fernhalten konnte.
Den Tempel von Karnak hatten die Truppen weitaus weniger gebrandschatzt als die Paläste, Verwaltungsgebäude und Häuser in Theben selbst. Doch man hatte ihn nicht völlig verschont. Bei Nechos und Psammetichs erstem Einzug in Theben vor wenigen Jahren hatten sie sich großmütig gezeigt und nicht darauf bestanden, daß die Gottesgemahlin Amons, die Schwester des verstorbenen Taharqa, umgehend ersetzt wurde. Eine priesterliche Weihe ließ sich nicht ohne weiteres aufheben. Indessen galt es als abgemacht, daß nach dem Tod der jetzigen Titelträgerin eine der Schwestern des jungen Psammetich an ihre Stelle rücken würde.
Taharqas Schwester hatte diese Rücksichtnahme nicht unbedingt mit großer Dankbarkeit erfüllt, was unter den gegebenen Umständen verständlich war. Sowie die Nachricht vom Sieg ihres Neffen Tanwetamani eintraf, hatte sie darauf bestanden, daß der
Weitere Kostenlose Bücher