Die Söhne der Wölfin
Ursprung allen Lebens.
Etwas, auf das man lange gewartet hatte, konnte einen ersticken, wenn es endlich eintraf, dachte Romulus, als er von einem seiner ergiebigeren Raubzüge zurückkehrte. Tarchna befand sich im tiefsten Tusci-Land, nicht im Grenzgebiet wie Alba, doch es gab auch hier genügend Latiner, die von dem Reichtum der Tusci-Städte angelockt wurden und sich in ihrer Nähe ansiedelten, wie es, wenn auch aus anderen Gründen, Romulus und Faustulus getan hatten. Vor allem gab es Unzufriedene, die sich nicht damit abfinden wollten, für die Tusci nur das Vieh zu hüten. In den letzten Jahren hatte Romulus festgestellt, daß es ihm ohne seinen Bruder im Rücken durchaus möglich war, Freunde zu gewinnen. Nun, vielleicht nicht Freunde, aber Anhänger. Jungen wie er, die zuhörten, wenn er sagte, daß man sich nicht mit den Almosen der Tusci abfinden müsse.
Für den König von Tarchna das Vieh zu hüten war nichts. Aber es gab noch andere Edle der Tusci, die Herden außerhalb der Stadt ihr eigen nannten. Sich um Wasserstellen zu prügeln war nichts. Einander die besten Tiere abzujagen, wenn es sich nicht nachweisen ließ, war besser, war ein erster Schritt. Bei den Eifersüchteleien unter den Edlen konnte man sicher sein, daß der jeweilige eigene Schutzherr den Diebstahl, so er erfolgreich war, mit Genugtuung decken würde. Aber niemand sagte, daß man immer alle Tiere bei der Herde des Schutzherrn halten mußte, vor allem, wenn dieser nicht zugeben konnte, daß er mehr besaß, als rechtens war. Einige ließen sich immer absondern. Ließen sich umtauschen in so nützliche Dinge wie die Bronzeschwerter, die Numa, dem der Dienst bei den Tusci auch nicht schmeckte, bei den Waffenschmieden für die Krieger des Königs bestellte.
»Du solltest es machen wie ich«, sagte Numa des öfteren, wenn er Romulus wieder einmal Unterricht im Schwertkampf oder Speerwerfen gab. »Vieh hüten, das ist nichts für dich. Wozu Waffen horten, wenn du doch bei den Schweinen bleibst?«
»Numa«, gab Romulus dann zurück, »warte es ab. Am Ende wirst du es machen wie ich.«
Er war noch nicht bereit, Numa alles zu erzählen, oder sonst irgend jemandem, o nein. Immerhin wußte Numa mehr als die meisten. Numa war nicht dumm, und er war nützlich, nicht nur im Übermitteln von Schriftrollen aus fernen Ländern. So überraschte es Romulus nicht weiter, daß es Numa war, der, als Romulus mit zwei Freunden und vier fremden Ferkeln im Schlepptau zu der königlichen Herde zurückkehrte, die er wie andere landlose Latiner immer noch hütete, vergnügt auf einem Baumstamm saß, den Arm um die Schultern des Mannes neben sich gelegt, und ihm schon von weitem entgegenrief: »Romulus, Romulus, du wirst nie glauben, wer hier ist!«
Er glaubte es. Er hatte gewußt, daß es bald soweit sein würde, und dennoch konnte er das Gefühl nicht genau benennen, das ihm die Kehle zuschnürte. Der junge Mann neben Numa, in einem Chiton, so fein gewebt wie die der Stadtbewohner, und Stiefeln, die hier kein Mensch trug, stand auf, groß, breitschultrig und vertraut wie das Gestern, das ihn immer noch heimsuchte. Er hätte Remus überall erkannt, trotz der vergangenen Jahre, so wie er die Narben an seinem eigenen Körper kannte.
Remus schaute ihm mit einem unsicheren Lächeln entgegen, das rasch zu einem breiten Strahlen wurde, als Romulus ihn an den Unterarmen packte, wie es in ihrem Dorf die Männer getan und die Knaben immer geübt hatten.
»Romulus«, rief er, »Romulus, es tut so gut, dich wiederzusehen, Bruder! Meine Güte, bist du gewachsen.«
Es war Romulus durchaus bewußt, daß er bei allem Wachstum trotzdem immer noch nicht so groß war wie Remus, doch er bezweifelte, daß Remus es bemerkte. Sein Bruder schien noch immer all das auszusprechen, was ihm auf der Zunge lag, ohne jede Hintergedanken.
»Es tut gut, dich wiederzusehen, Bruder«, wiederholte Romulus, weil es von ihm erwartet wurde und er das, was er empfand, ohnehin nicht in Worte hätte kleiden können. Außerdem, dachte er, war es passend, das Echo seines Bruders zu spielen. Schließlich waren sie Zwillinge.
Er stellte Remus seine beiden Freunde vor, Lucius und Scaurus, und beobachtete, wie sich sein Bruder nach ihrem Heimatdorf und ihren Familien erkundigte und ein paar freundliche Worte für jeden fand, wie sie sich sichtlich für Remus erwärmten.
»Na, so eine Rückkehr, die muß gefeiert werden!« meinte Scaurus. »Da lohnt es sich glatt, einen von den netten Quiekern hier
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