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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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genügte.«
    »Sind wir wieder bei den Käfigen angelangt? Du sperrst dich selbst in einen, Ilian, wenn du Prophezeiungen und Priestersprüche der Wirklichkeit aus Fleisch und Blut vorziehst. Du bist eine Frau, keine Statue in einem Tempel.« Arion legte eine Hand auf ihren Arm. »Du solltest wie eine Frau leben.«
    »Nicht wie eine griechische Frau«, erklärte sie fest. »Und gewiß nicht wie eine griechische Ehefrau. Sag mir, du würdest nicht von mir erwarten, daß ich vom Tag nach unserer Hochzeit an dein Haus nicht mehr verlasse, daß ich in meinen Räumen bleibe, während du Handel treibst oder deine Freunde besuchst, daß ich alle Ziele aufgebe, die ich mir je gesetzt habe, und ich sage dir, du lügst.«
    »Warum hast du dieses Spiel mit mir dann angefangen, Ilian?« fragte er bitter, und die Last der Enttäuschung drückte ihn nieder. »Warum hast du nicht einfach darauf verzichtet, mich je wiederzusehen?«
    Zu seiner Überraschung spürte er ihre Lippen auf den seinen. Es war kein leidenschaftlicher oder aufreizender Kuß, nur eine kurze, zarte Berührung, ehe sie sich wieder zurückzog.
    »Weil du all die Jahre ein Freund warst«, entgegnete Ilian, »und es sein mag, daß ich dir nie wieder begegnen werde.« So leise, daß er nie sicher war, ob er diese letzte Äußerung nicht geträumt hatte, setzt sie hinzu: »Weil es mir leid tut um das, was hätte sein können.«

    Der Morgen dämmerte bereits, als Remus das Haus betrat, das für ihn in den letzten drei Jahren zum Heim geworden war. Er war zu erschöpft, um überrascht zu sein, daß ihn nicht einer der Diener einließ, sondern seine Mutter.
    »Ich habe auf dich gewartet«, sagte sie.
    Das mußte der Wahrheit entsprechen, denn im Dämmerlicht erkannte er, als er die Augen zusammenkniff, die der Wein hatte aufschwellen lassen, daß sie immer noch dasselbe Gewand wie am gestrigen Tag trug.
    »Warum?« fragte er bitter. Zumindest tat sie nicht so, als verstünde sie die Frage falsch.
    »Es gibt viele Arten, ein Mann zu werden«, entgegnete sie. »Diese erschien mir besser als die anderen.«
    Aber es war eine Lüge, wollte er protestieren. Du hast mich an eine Lüge glauben lassen . Doch seine Zunge war immer noch schwer von dem Rausch, den er sich mit Arkas und Lichas angetrunken hatte, und außerdem war er sich noch nicht einmal mehr sicher, daß es stimmte. Schließlich hatte Prokne nie einen Hehl daraus gemacht, was sie war. Wenn ihn jemand belogen hatte, dann war er selbst es gewesen.
    Wortlos drängte er sich an ihr vorbei und stieß dabei einen Krug um, der bereitstand, damit ihn der Türvorsteher in ein, zwei Stunden mit Wasser füllen konnte. Das Scheppern hallte in seinem Kopf wie das Geheul von Toten in der Unterwelt. Unwillkürlich stöhnte er auf und griff sich an die Schläfen.
    »Wenn du mich fragst«, sagte seine Mutter mitleidslos, »dann geschieht es dir recht, falls du den Tag über mit Kopfschmerzen herumläufst. Obwohl du vermutlich besser Ulsna fragen solltest. Er sieht wesentlich schlimmer aus als du.«
    Er erinnerte sich dunkel, Ulsna geschlagen zu haben, und an das Gefühl der Befriedigung, das er dabei empfunden hatte. Warum eigentlich? Der gute, alte Ulsna. Ulsna war ein Freund. Ulsna hatte ihm von Anfang an reinen Wein eingeschenkt, im Gegensatz zu den verdammten Weibern in seinem Leben. Ulsna hatte... Unwillkürlich sog er die Luft ein, als ihm der Rest wieder einfiel. Inmitten von Benommenheit und beginnenden Kopfschmerzen fehlten ihm die Hemmungen, die ihn sonst zurückgehalten hätten.
    »Schläfst du mit Ulsna?« fragte er und drehte sich wieder zu seiner Mutter um.
    »Nein«, gab sie mit unbewegtem Gesicht zurück.
    »Gut«, stieß Remus hervor und fiel ihr um den Hals. Da er sie inzwischen um einiges überragte, war es nicht einfach, doch es gelang ihm. »Romulus hatte Angst, du tust es, ganz am Anfang, weißt du?« flüsterte er in ihren Nacken hinein. »Als er bei uns aufgetaucht ist. Aber ich habe immer gewußt, daß du keine schlechte Frau bist.«
    Er spürte ihre vertrauten, langgliedrigen Finger in seinem Haar.
    »Schlaf jetzt«, sagte sie. »Du hast noch ein paar Stunden Zeit, bevor du dich bei Ulsna entschuldigen kannst.«
    Undeutlich flackerte der Gedanke auf, daß er eigentlich eine Entschuldigung von ihr erwartet hatte, und erlosch sofort wieder. Sie hatte recht, oder etwa nicht? Der gute Ulsna verdiente eine Entschuldigung. Sie hatte immer recht, weil am Ende alles auf sie zurückging, wie auf die Götter, den

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