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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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gleich zu schlachten, was meinst du, Romulus?«
    »Aber sicher. Nur weiß ich nicht, ob eines genügt. Vielleicht bekommen wir noch einen weiteren Ehrengast. Oder, Remus?«
    »Was meinst du?« fragte Remus verdutzt.
    »Ich meine, ob sie hier ist. Der Quell unseres Daseins, lieber Bruder: unsere Mutter.«
    Wie es schien, war Remus mit den Jahren doch vorsichtiger geworden. Er warf Numa, Scaurus und Lucius einen Blick zu, dann sagte er langsam: »Nun, in der Nähe ist sie schon, nur dachte sie, es sei kein guter Einfall, gleich mitzukommen. Du weißt schon, des Vaters wegen. Außerdem hatte sie etwas mit ein paar Priestern hier zu bereden.«
    »Ich wußte gar nicht, daß deine Mutter noch am Leben ist«, bemerkte Lucius, was Romulus ein weiteres Mal bewies, daß Numa, der dank seines Vaters bestens Bescheid wußte, den Mund halten konnte, wenn es darauf ankam. Auch jetzt schwieg er und schaute nachdenklich von Remus zu Romulus und zurück, obwohl ihm ein ganz bestimmter Einwurf auf der Zunge brennen mußte.
    »Oh, sie lebt noch«, antwortete er Lucius. »Unsere Mutter ist kein gewöhnliches Wesen. Sie überlebt alles.« Mit einem schmalen Lächeln wandte er sich Remus zu. »Im Gegensatz zu dem armen Faustulus, Bruder. Er ist im vergangenen Winter gestorben. Nicht, ohne sich zu wünschen, du wärst bei ihm gewesen, was du verstehen wirst.«
    Das Schuldgefühl, das sich sofort über Remus’ ausdrucksvolle Züge legte, war ungeheuer befriedigend. Kein Ausgleich dafür, daß es Romulus gewesen war, der den rasselnden Atem ihres Ziehvaters bis zum Ende hatte hören müssen, während Remus das Leben in Korinth, Ägypten oder anderswo genossen hatte. Aber es war ein Anfang.
    »Gestorben?« wiederholte er heiser. »Ich dachte... warum hast du nicht... o Apollon, ich hatte so gehofft...«
    Er rief sogar fremde Götter an, ohne nachzudenken, dachte Romulus, und sein Lächeln ohne jede Heiterkeit vertiefte sich. Dann erbarmte er sich seines Bruders, legte ihm einen Arm um die Schultern und sagte: »Es gab nichts, was du hättest tun können. Niemand hätte etwas tun können. Es war einfach Zeit für ihn.«
    Er war zu schwach geworden, um weiterzuleben, setzte er schweigend hinzu, doch er sprach es nicht aus. Die einzige Person, der gegenüber er so etwas geäußert hätte, war nicht hier.
    »Wo ist sie?« fragte er Remus.
    Immer noch erschüttert, erwiderte sein Bruder: »Einen halben Tagesritt von hier entfernt. Ich soll dich zu ihr bringen, wenn du sie sehen möchtest.«
    Romulus lachte, was ihm unsichere Blicke aller Anwesenden einbrachte. »Ich möchte sie sehen«, sagte er, als er sich wieder beruhigt hatte. »Aber sie soll zu mir kommen.«

    Er verbrachte den Rest des Tages damit, Vorbereitungen zu treffen, und überließ die Tiere Lucius und dessen kleinem Bruder, der während ihres Raubzugs Wache gehalten hatte. In ihm summte es wie in einem Bienenstock. Tatsächlich war er sich nicht völlig sicher, ob sie kommen würde. Es mochte sehr wohl sein, daß sie glaubte, er werde ihr irgendeine Falle stellen. Damit hätte sie recht, aber es war keine Falle, die sie erwarten würde. Es kam jetzt darauf an, ob das jahrelange Grübeln umsonst gewesen war oder nicht.
    An Remus zumindest hatte ihn nichts überrascht. Remus war berechenbar geblieben, was auf Romulus eine beruhigende Art von Freude ausübte. Remus hatte die Welt gesehen, doch die Welt hatte es nicht fertiggebracht, ihn zu ändern. Offenbar waren all die Erfahrungen an ihm abgeglitten wie Wasser, einschließlich des Tages, der ihre alte Welt zerstört hatte. Mit einem Hohn, der sich nicht nur gegen Remus, sondern auch gegen sich selbst richtete, rief er sich den Trostversuch von einst ins Gedächtnis, seinen Zwillingsbruder, wie er sagte: »Ich mag dich lieber als jeden anderen.«
    Er hatte schon damals gewußt, daß es eine gutgemeinte Lüge sein mußte, und nun, da Remus das Leben ohne ihn so offenkundig bekommen war, war er sich seiner Sache wieder sicher. Jede Wette, daß Remus in seinem Leben jenseits des Meeres nur gelegentlich an ihn gedacht hatte, gerade genug, um einen Hauch von schlechtem Gewissen zu spüren, mit dem sich immerhin etwas anfangen ließ. Romulus selbst war über Gewissensbisse hinweg. Die letzten waren mit dem armen Faustulus gestorben; Faustulus, dem wandelnden Beispiel dafür, warum es nicht gut war, irgend jemanden zu lieben. Er hatte die Zuneigung des Kindes, das er gewesen war, mit Faustulus verbrannt. Die Urne mit der Asche stand noch in

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