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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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einiges passiert, über das ich unbedingt mit dir reden muß.«
    »Erzähl es mir«, sagte Romulus begütigend, »aber unter freiem Himmel. Ich wollte nur sichergehen, daß mit den Tieren alles in Ordnung ist.«
    »Ja, wie der Vater es uns gelehrt hat«, meinte Remus versonnen, und Romulus erwiderte nichts. Am nächtlichen Himmel erkannte Remus die wichtigsten Sterne, denen die Seeleute folgten, doch obwohl seine Mutter es ihm angeboten hatte, war er nie neugierig genug gewesen, um mehr über sie zu lernen. Es gehörte zu der Welt aus Ritualen und trockenen Papyri, die nicht die seine war.
    »Hast du ein Mädchen?« fragte er plötzlich, und Romulus, verblüfft klingend, verneinte. Daraufhin schüttete Remus ihm sein Herz über Prokne aus, die herrliche, trügerische Prokne, die er vor seiner Abreise nicht mehr gesehen hatte, weil sein Stolz es ihm verbot, und die er dennoch unglaublich vermißte.
    »Was ich nicht begreife«, schloß er, »ist der Grund, warum die Mutter das alles überhaupt in die Wege geleitet hat. Ich meine, ich hätte doch sonst nie an Prokne auf diese Art und Weise gedacht.«
    »Gewiß hatte sie ihre Gründe. Erzähl mir noch einmal, was Prokne über sie gesagt hat.«
    »Prokne hat gar nichts... sie hat nur Gerüchte wiederholt. Üble Gerüchte, die nicht stimmen. Es hat mich bloß so wütend gemacht, es mir überhaupt vorzustellen, verstehst du?«
    »Ich verstehe dich genau«, entgegnete Romulus und hing seinen eigenen Gedanken nach, während sein liebenswerter, aber törichter Bruder weiterhin über sein gebrochenes Herz schwatzte. »Ganz genau.«

    In gewisser Weise wiederholten sich für die Zwillinge das Frühjahr und der Sommer, die sie vor vier Jahren mit ihrer Mutter verbracht hatten. Gewiß, es gab Unterschiede: Faustulus war fort, und sie hatten kein festes Heim mehr, denn Romulus gab den Vorwand des Viehhütens auf. Er und Remus sammelten weitere Anhänger wie Lucius und Scaurus, um sie an Waffen auszubilden, zuerst in der Nähe von Tarchna, dann aus der Gegend um Vei, der Tusci-Stadt, die Alba am nächsten lag. Anhänger, die jung, arm und unternehmungslustig genug waren, um sich zu Überfällen auf die Tusci bereitzufinden. Überfällen, die jedoch immer und ausschließlich Handelszügen aus Alba galten.
    »Gesindel«, fluchte einer der Kaufleute, der auf diese Weise um einen Wagen voller kostbarer Krüge gebracht wurde. »Der König wird es euch heimzahlen.«
    »Welcher König?« gab Romulus zurück, laut genug, damit ihn jeder der Überfallenen hören konnte. »Ihr habt keinen echten König. Euer König hat sich gegen die Götter vergangen und ist verflucht, das weiß doch jeder.«
    Ihre Opfer wurden immer am Leben gelassen. »Vorerst«, sagte Romulus zu seiner Mutter, »denn es ist eine schlechte Lösung, mit Untertanen zu beginnen, die einen hassen, weil man ihnen Väter, Brüder oder Söhne genommen hat. Aber wenn sie anfangen, mit besseren Eskorten zu reisen, wird sich das ändern müssen.«
    Die Gespräche, die Romulus und Ilian miteinander führten, gehörten für Remus zu den Gemeinsamkeiten mit jenen lange zurückliegenden Monaten. Romulus hatte Sinn für alles Komplizierte, ob es nun Rituale oder in die Zukunft gerichtete Pläne waren, und gerade, was die Rituale anging, war Remus froh, derartige Verpflichtungen auf seinen Bruder abwälzen zu können. Er kümmerte sich lieber um Handfestes, wie darum, ihre kleine, aber stetig wachsende Schar zu organisieren. Es war ein buntes Gemisch aus rauflustigen Hirten, entflohenen Sklaven und anderen Landlosen; doch wenngleich die meisten von ihnen gut mit Knüppeln umgehen konnten, war keiner von ihnen wie Remus und Numa im Zweikampf mit Schwert, Schild und Speer ausgebildet worden. Remus übernahm diese Aufgabe zusammen mit dem Aufbau von Lagerplätzen und der Versorgung der eigenen und erbeuteten Tiere, wie er früher mit seinem Vater auch den Hauptteil der alltäglichen Arbeit am Hof verrichtet hatte.
    Daß Romulus sich trotz allem, was geschehen war, so gut mit der Mutter verstand, überraschte ihn, und auch wieder nicht. Romulus mochte ein Talent für die schwierigen Dinge des Lebens haben, doch das Naheliegende, vor allem das, was ihn selbst betraf, wollte sein Zwilling oft nicht begreifen. Für Remus war schon früher offenkundig gewesen, daß es Romulus um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter ging, und jetzt war noch deutlicher, daß er sich eher die Zunge abgebissen hätte, als zuzugeben, daß er sie vermißt hatte. Etwas in

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