Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
Mutter in sein Blickfeld geriet. Dennoch blieb er stehen, statt weiterzugehen, und beobachtete sie eine Weile. Sie trug ihr Haar offen, was sie selten tat, nur durch ein Stirnband zurückgehalten, und die letzten Sonnenstrahlen hinterließen rötliche Funken in den braunen Locken. Er hatte mittels der Geschichten, die man erzählte, sowie seines eigenen Alters einmal nachgerechnet und geschlußfolgert, daß sie einunddreißig oder zweiundreißig Jahre alt sein mußte. Faustulus und eigentlich alle Erwachsenen im Dorf waren in diesem Alter bereits leicht gebeugt gegangen und hatten die ersten silbernen Streifen im Haar gezeigt, doch sie sah nicht viel älter aus als die Mädchen in der Schenke. Sie saß auf dem Boden, mit dem Rücken zu ihm, ihre Instrumente neben sich und das Gesicht der untergehenden Sonne zugewandt, eine schlanke Gestalt, deren blaues Kleid ihn an den Umhang erinnerte, den Faustulus jahrelang aufbewahrt hatte. Die Farbe stand ihr, doch sie ließ seine Mutter auch mit der Dämmerung verschwimmen. Er näherte sich so lautlos wie möglich und legte ihr von hinten die Hände auf die Augen. Ihre Haut fühlte sich kühl unter seinen Fingern an; die Wimpern kitzelten ein wenig.
    »Das war leichtsinnig«, sagte Romulus, als sie still blieb. »Dein Barde glaubt, daß du meinetwegen in großer Gefahr schwebst. Er traut mir alles mögliche zu.«
    »Er ist ein guter Freund«, erwiderte sie. »Aber ich bin mein ganzes Leben lang gerannt, und jetzt ist Schluß damit.«
    »O nein, jetzt noch nicht. Nicht so kurz vor dem Ziel. Du schuldest mir noch einen Wettlauf«, sagte Romulus und ließ sie los.
    Sie drehte sich nicht zu ihm um; statt dessen nahm sie etwas von der Erde neben sich in die Hand. »Um ein Land zu beherrschen, muß man sich mit ihm verweben«, sagte sie nachdenklich, »ganz gleich, ob es nur ein Acker, eine Stadt oder ein großes Reich ist. Jeder Bauer hier weiß es, aber die meisten Griechen haben das vergessen, die Ägypter haben es vergessen, und nun, da ich wieder hier bin, entdecke ich, daß auch ich es vergessen hatte. Ich bin eine Fremde geworden.«
    Romulus setzte sich neben sie. »Ah, aber für dich spielt es ja keine Rolle. Du hast all die Jahre ganz uneigennützig dafür gekämpft, daß deine Söhne eines Tages herrschen. Nicht du. Richtig?«
    Nun wandte sie sich ihm zu, und ihr Gesicht war die ebenmäßige, makellose Maske seiner Alpträume. Aber nun war er sich sicher, einen Weg gefunden zu haben, sie zu entschlüsseln. Während er weitersprach, ergriff er ihre Hand mit der Erde und bog ihre Finger zurück, einen nach dem anderen, und sie ließ es geschehen.
    »Hast du das auch geplant? Daß ich es verstehe? Remus hat natürlich keine Ahnung, und ich möchte wetten, du hast nie etwas davon zu den Priestern gesagt oder zu den anderen Mächtigen, die dir geholfen haben. Vielleicht noch nicht einmal zu dem Barden. Es war schon schwierig genug, sie zu überzeugen, dabei zu helfen, einen deiner Söhne auf den Thron zu bringen. Wenn du ihnen verraten hättest, daß du selbst auf den Thron willst, hätten sie dich endgültig für verrückt erklärt.« Die Hand mit der Erde lag geöffnet in der seinen. »Nicht die Macht hinter dem Thron. Die Macht auf dem Thron. Hohepriesterin und Königin in einer Person, so wie früher der König gleichzeitig der oberste Priester war.«
    Mit einer jähen Bewegung drehte er ihre Hand um, so daß die Erde herausfiel.
    »Glaubst du wirklich, daß wir für dich einen Thron erobern und dann beiseite treten? Das wäre selbst von Remus etwas zuviel verlangt.«
    »Nein«, sagte sie und entzog ihm ihre Hand. »Das glaube ich nicht.« Wieder nahm sie eine Handvoll Erde auf, feuchte Erde trotz der Wärme, denn die Gegend war sumpfig, doch diesmal hielt sie die Hand nicht geschlossen, sondern nahm noch eine zweite dazu. Dann fuhr sie Romulus mit beiden erdbeschmierten Händen über das Gesicht, zuerst über die Stirn, dann über beide Wangen und endlich zum Kinn, als wolle sie auch ihn hinter einer Maske verbergen. Er rührte sich nicht.
    »Das habe ich nie getan.«
    »Was dann?« murmelte er in ihre Hände hinein.
    »Wir haben alle unsere Pläne. Du hast deine, ich habe meine. Glaub mir, der Wettlauf wird dich nicht enttäuschen. Wenn ich dir jetzt schon alles verraten würde, nur weil du etwas tiefer siehst, wäre das Spiel schon zu Ende, nicht wahr?«
    »Ich sehe nicht nur etwas tiefer«, sagte Romulus entrüstet. »Ich bin der erste und einzige Mensch, der dich

Weitere Kostenlose Bücher