Die Söhne der Wölfin
Netz gefangen und versuche verzweifelt zu entkommen.
Als die Abende länger wurden, saßen sie häufiger vor der Feuerstelle, und Faustulus beschloß, Larentia seine Sprache beizubringen. Eines Tages würde sie ihn begleiten, wenn er zum Flußdorf ging, und dann sollte sie nicht alle dadurch verärgern, daß sie nur Tusci sprach. Im Gegensatz zu der finsteren Energie, mit der sie sich den Tieren widmete, schien das Erlernen seiner Sprache sie mit Freude zu erfüllen. Manchmal fragte sie ihn nach Worten, die er in der Sprache der Tusci nie benötigt und daher nie gelernt hatte, und wenn sie versuchte, ihm zu erklären, was sie meinte, offenbarte sie ihm wieder ein neues Gesicht: Sie war lebhaft, ohne angriffslustig oder unglücklich zu sein, war durchströmt von einem Eifer, der sie trotz ihrer zunehmenden Schwerfälligkeit einem Eichhörnchen ähneln ließ, das von Ast zu Ast hüpfte und in seiner Eile, den Wipfel des Baumes zu erreichen, ein paar Zweige übersprang. Faustulus konnte ihr nicht immer folgen, doch er bemühte sich.
»Ein Zeitabschnitt«, sagte sie einmal, »länger als ein erlaubtes Menschenleben.« Das Zahlwort, das sie nannte, war ihm unbekannt, und ebenso das Symbol, das sie mit Holzkohle auf den Boden malte. Er wollte sie schon bitten, ihm mit den Fingern zu verdeutlichen, wie viele Jahre sie meinte, doch ihre letzten Worte lenkten ihn ab.
»Ein erlaubtes Menschenleben?« wiederholte er verblüfft.
Sie runzelte die Stirn. »Aber gewiß wißt selbst ihr...«, begann sie, hielt dann inne und begann von neuem. »Nach zehn mal sieben Jahren hören die Götter auf, mit den Menschen zu sprechen, und die Seele macht sich daran, den Körper zu verlassen. Wenn der Körper nach zehn mal acht Jahren dann trotzdem noch lebt, ist das zutiefst unnatürlich und muß unterbunden werden.«
Er kannte den Begriff »unterbunden« nicht, aber worauf sie hinauswollte, stand außer Zweifel.
»Ihr tötet eure alten Leute?« fragte Faustulus entsetzt.
»Nein«, entgegnete Larentia geduldig, »sie leben nicht mehr. Aber solange der Körper noch atmet, kann sich die Seele nicht völlig befreien und ihre Reise fortsetzen.« Beunruhigt setzte sie hinzu: »Bleiben bei den Latinern die Seelen gefangen?«
»Bei uns wird kaum jemand so alt«, gab Faustulus zurück, der nicht wußte, was ihn mehr verstörte - das, was sie sagte, oder daß ihr Ton wieder den Hauch Herablassung angenommen hatte, der sein lebhaftes Mädchen in das Wesen zurückverwandelte, das er bei sich »die Nichte des Königs« nannte. »Noch nicht einmal halb so alt, weil die meisten nämlich vorher sterben. So alt zu werden, das können sich nur die Tusci leisten. Und es dann verschwenden.«
Einen Moment lang sah sie aus, als ob sie wieder etwas über »Barbaren« sagen wollte, dann überlegte sie es sich offenbar, denn sie schloß kurz die Augen und atmete tief ein. Als sie sich Faustulus erneut zuwandte, deuteten nur noch die geballten Fäuste, die auf ihrem Schoß lagen, darauf hin, daß sie sich ärgerte.
»Das Zeitalter, das ich meine«, sagte sie schließlich, als hätte es kein Abschweifen gegeben, »hat keine feste Zahl an Jahren, denn es kann durch bestimmte Ereignisse früher enden oder länger dauern. Nimm an, eine Stadt wird gegründet; wenn derjenige ihrer Gründer, der am längsten lebt, stirbt, dann bestimmt er mit seiner Lebensdauer das erste Zeitalter.«
»Oh, ein Saeculum!«
»Saeculum«, wiederholte sie, lächelte, und ihre Fäuste öffneten sich. Sie las eine Schnur vom Boden auf, die er benutzt hatte, um Reisig für das Feuer damit zu bündeln, und begann sie sich um die Finger zu wickeln, lose, spielerisch und ohne jeden Sinn. Sie hatte schöne Hände, dachte Faustulus, schmal, mit langgliedrigen Fingern; Hände, die trotzdem zupacken konnten. Doch was ihm jetzt durch den Kopf ging, hatte nichts mit deren Nützlichkeit zu tun. Er wünschte sich plötzlich, sie würde ihn mit ihren Händen berühren. Natürlich tat sie das jedesmal, wenn sie ihm etwas reichte oder etwas von ihm entgegennahm, und auch bei den immer selteneren Gelegenheiten, wenn sie einen schlechten Traum hatte oder weinte und er sie danach tröstete. Aber obwohl sie nicht mehr steif dalag, wenn er mit ihr schlief, hatte sie doch nie eine Zärtlichkeit erwidert oder von sich aus seine Nähe gesucht. Es war nicht so, daß er gerade jetzt mit ihr schlafen wollte. Das würde ohnehin bald aufhören. Nicht während der letzten drei Monate, hatte sein Vater gesagt, als
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