Die Söhne der Wölfin
Ablenkung von Grübeleien über den Erfolg all der verschiedenen Pläne, die für den Gerichtstag gehegt worden waren. Es war besser als überhaupt nichts. Romulus hatte noch nie so lange Zeit an einem Ort verbracht. Er stellte fest, daß er die frische Luft am meisten vermißte, die Möglichkeit, einfach fortlaufen zu können, etwas, das ihm selbst in den unglücklichsten Momenten seines Lebens nie verwehrt gewesen war. Es gelang ihm nur wenige Stunden, tatsächlich zu schlafen, doch wenn er schlief, träumte er davon, mit Remus durch den Wald bis zu dem alten Gehöft zu rennen. Leider blieb es nicht bei diesem Traum; sehr bald schon schlich sich die Wirklichkeit ein, und er wußte wieder, daß er sich in einem Tusci-Verlies befand. Die Wände rückten näher und näher, und als er begann, den Boden aufzugraben, um sich vor den Wänden zu verbergen, sah er, daß Blut aus seinen Händen in die Erde quoll, in einem nicht enden wollenden Schwall, der mit jedem Pochen seines Herzens schneller floß.
Der Schlag ins Gesicht, der ihn aus diesem Traum weckte, stammte von dem Mann namens Unata, der ihn bisher in Ruhe gelassen hatte. »Hör zu, Kleiner«, knurrte der Frauenmörder, »wir wissen alle, was uns blüht. Du hast keinen Grund, hier herumzubrüllen.«
Er war dankbar genug, geweckt worden zu sein, um nicht aufzubrausen, obwohl er im nachhinein noch unruhiger wurde, als er über diese Bemerkung nachdachte. Selbst wenn er im Schlaf geredet haben sollte, konnte es unmöglich etwas gewesen sein, das der andere verstand, es sei denn, er beherrschte die Sprache der Latiner. Oder sollte der Schlag Romulus einen Streich gespielt und ihm Rasna-Worte entlockt haben?
Tusci, verbesserte er sich in Gedanken sofort. Tusci .
Er wünschte nicht, in dieser Sprache zu träumen, selbst wenn es keine Zuhörer gegeben hätte. Es war wichtig, sie zu sprechen, doch er durfte nicht zulassen, daß sie sein Denken beeinflußte. Vermutlich lag es daran, hier ständig von Tusci umgeben zu sein. Was auch immer die Zukunft für ihn bereithielte, er würde dafür sorgen, daß eine rein latinische Umgebung dazugehörte.
Da es Romulus nicht mehr gelang, einzuschlafen, vertrieb er sich die Zeit mit Übungen. Mochten die anderen davon halten, was sie wollten, und erzählen, was sie wollten, er hatte nicht vor, den Gerichtstag mit steifen Knochen zu beginnen.
Wie sich herausstellte, begann er ihn nicht im Gefängnis, sondern im Palast. Man holte ihn, als die anderen noch schliefen, oder zumindest so taten, und als er ins Freie kam, erkannte er mit der Gewohnheit des Hirten nach einem Blick zum Himmel, daß die Sonne erst in einer Weile aufgehen würde. Der kurze Weg zu dem großen Platz, etwas weiter hügelabwärts, an dem der Palast lag, war noch leer und frei von Schaulustigen.
Die vier Krieger, die ihn diesmal begleiteten, sprachen nicht, auch dann nicht, als sie ihn durch die Gänge des Palastes brachten. Es war ihm recht so; er genoß einfach das Gefühl, ständig anderen Boden unter seinen Füßen zu haben, weit zu gehen, ohne an eine Wand zu stoßen. Romulus fragte sich, wie lange Menschen das Eingesperrtsein wohl aushalten konnten, wenn ihm bereits die paar Tage so zu schaffen machten.
Er war nicht überrascht, als ihn am Ende, auf einer Terrasse, von der aus man weite Teile der nächtlichen Stadt überblickte, der König erwartete, noch verblüffte es ihn, daß der kleine Trupp Krieger verschwand, nachdem sie ihn abgeliefert hatten.
»Nun, Romulus«, sagte Amulius, und nach den ständigen wuterstickten Ausbrüchen seiner Kerkergenossen klang die Stimme des Königs wie ein leises Echo, das sich über den Dächern von Alba verlor, »dein Freund Fabius schwört, daß du keine griechischen Verbindungen besäßest und daß du den Herrschaftsbereich der Zwölf Städte nie verlassen hättest. Das freut mich sehr, fiele es mir doch schwer, dem Volk einen weitgereisten Schweinehirten zu erklären, und ich liebe Erklärungen.«
Romulus erwiderte nichts, obwohl sich Amulius erneut seiner Sprache bediente. Statt dessen betrachtete er die hochaufgerichtete Gestalt, die für jemanden, dessen Augen nicht an das Dunkel einer unterirdischen Zelle gewöhnt worden waren, kaum von der Nacht zu unterscheiden gewesen wäre. Er versuchte, sich jede Kleinigkeit einzuprägen. War es möglich, daß der Mann sein Haar gestutzt hatte seit jenem ersten Verhör? Das Abschneiden von Haar hatte irgendeine Bewandtnis für die Tusci, doch die genaue Bedeutung entzog
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