Die Söhne der Wölfin
begann der Tag des Gerichts in der Nähe des Cath-Tempels, wo er sich versteckt hatte. Er war am Abend zuvor mit Ilian in die Stadt gekommen, doch sie hatten sich getrennt, ehe sie den Tempel betrat. Die Hitze der Nacht kroch ihm in die Knochen, erinnerte ihn an Ägypten und löste in ihm die Sehnsucht nach dem kalten Wüstenwind aus, der gelegentlich all die aufgestaute Wärme vertreiben konnte. Nicht hier. Hier war er dazu verurteilt, in mehr Kleider gehüllt, als er jemals getragen hatte, darauf zu warten, daß der Tag anbrach.
Gewiß, niemand zwang ihn dazu. Niemand hatte ihn je zu etwas gezwungen. Außerdem war es nicht so, daß Ilians Einfall ohne Vorteile für ihn gewesen wäre; als sie mit anderen Bauern aus der Umgebung vor dem Stadttor standen und darauf warteten, eingelassen zu werden, war es sehr offensichtlich, daß die Wachen die jüngeren Männer zurückwiesen, wenn sie sie nicht kannten, und Ulsna hätte nicht dagegen gewettet, daß Arnth ihnen für alle Fälle auch den Auftrag gegeben hatte, keinen Barden in die Stadt zu lassen. Ein Barde war eine unverwechselbare Erscheinung und verbreitete gelegentlich auch ungeliebte Geschichten. Zwei Bauersfrauen nicht.
Dennoch war nicht nur die Hitze schuld daran, daß ihm der Schweiß den Rücken herablief, und auch nicht das weiße Kleid einer Priesterin, das er, genau wie Ilian, unter seinem Umhang und dem grobgewebten Gewand trug. Er kam sich vor, als sei er sein Leben lang vor einem Ungeheuer davongelaufen, nur um sich jetzt ohne Waffen und mit bloßer Haut in dessen Rachen zu begeben. Es war ihm, als müßte ihm jeder seine Natur ansehen. Ich bin keine Frau, dachte er, während er sich nach Ilians Abschied auf die Suche nach einem guten Versteck machte und die Menschen achtlos an ihm vorbeigingen. Seht ihr das denn nicht? Wie könnt ihr mich all die Jahre als Mann angenommen haben und jetzt eine Frau in mir sehen?
Aber es gab niemanden, der es sah.
Er war sich selbst keine gute Gesellschaft in der Nacht, die er durchwachte. Mehr als einmal fragte er sich, was ihn daran hinderte, bei Sonnenaufgang einfach zu verschwinden. Ganz gewiß würden die Wachen niemanden vom Verlassen der Stadt abhalten. Verschwinden, und Ilian samt ihrer Söhne und ihrem Aufstieg oder Untergang oder beidem hinter sich lassen. Ilian, die bereit war, ihn zu opfern. Er hätte ausgesprochen einfältig sein müssen, um nicht zu begreifen, worauf der Einfall mit der gleichen Kleidung im Notfall hinauslief, auch wenn er bezweifelte, daß ihn wirklich irgend jemand mit Ilian verwechseln würde. Doch er hatte es so gewollt, nicht wahr? Er hatte sie, wie sie sagte, »zurückgeholt«, und das war der Preis.
Mit dem Anstieg der Sonne, der rotglühenden, unbezwingbaren Sonne, schwand auch die Vorstellung, er könne seinem Schicksal noch entkommen und es neu formen. Sein Leben war zu tief mit dem Ilians verwoben, als teilten sie dieselben Blutbahnen unter der Haut. Es war nicht immer angenehm, doch sich von ihr loszureißen hätte bedeutet, sich stärker zu verstümmeln, als selbst die wahnsinnigen Bacchus-Anhänger bei den Griechen es vermochten, wenn sie ihren Gott feierten.
Die Menge auf dem großen Platz vor dem Palast fand sich erstaunlich schnell ein; in dieser Nacht hatte wohl niemand lange geschlafen. Ulsna stand unter ihnen, den Stadtbewohnern, den Menschen aus der Umgebung, den Kaufleuten, Hirten und Bauern, den Schmieden und den Kindern, die noch zu jung waren, um irgend etwas zu sein, und das Gemurmel um ihn herum erinnerte ihn an das Klatschen der Wellen an die Planken eines Schiffes. Er schloß die Augen und wünschte sich an Bord der Kassiopeia zurück, des Schiffes, das ihn und Ilian aus diesem Land fortgebracht hatte.
Der König erschien zuerst, gekleidet in die Insignien seiner Macht, umgeben von seiner Wache und den Dienern, die einen Stuhl für ihn bereitstellten. Dann hielten die Priesterschaften der drei meistverehrten Gottheiten der Stadt Einzug; die Priesterschaft Turans, die Priesterschaft Nethuns, die Priesterschaft Caths. Ulsna bemühte sich nicht, Ilian unter ihnen herauszufinden. Insgeheim befürchtete er, wenn er dies täte, würde er lange genug in ihre Richtung starren, um ihr Geheimnis vor der Zeit preiszugeben. Statt dessen schaute er wie die meisten weiter in Richtung des Turan-Tempels, von wo aus man die Gefangenen brachte. Er kniff die Augen zusammen, doch abzüglich der Krieger machte er nur zwei Gestalten aus, und keiner von beiden war Romulus.
Dann
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