Die Söhne der Wölfin
sich ihm.
»Dafür erzählte er mir nach einigem Ausweichen etwas von einem Vorhaben, das ich mir leider auch nicht erklären kann. Vielleicht bist du in der Lage, mir dabei zu helfen. Bildet sich eine Schar unausgebildeter, schlechtbewaffneter Latiner tatsächlich ein, sie könne erfolgreich Alba angreifen? Gibt es Menschen, die derartig selbstmörderisch veranlagt sind?«
»Herr«, entgegnete Romulus, »soweit ich weiß, ist jeder zu allem imstande. Wenn man ihm nur ausreichend Grund dafür gibt.«
Der König machte einen Schritt auf ihn zu, und die lange verweigerte Überraschung kam, als Amulius ihm die Hände auf die Schultern legte. Romulus rührte sich nicht. Es waren große, kräftige Hände, wie die von Faustulus, wie die seines Bruders Remus. Doch es fehlte ihnen deren Wärme; Kälte strömte von ihnen aus wie der Nebel, der jetzt noch über dem See lag und dessen Arme bis zum Palast hochkrochen.
»Hast du Grund?« fragte Amulius eindringlich. »Hast du wirklich Grund zu sterben?«
Früher hätte es ihn wütend gemacht, so selbstverständlich für einen Narren oder zumindest für besiegbar gehalten zu werden. Mit einemmal kam es ihm in den Sinn, daß Amulius diesmal unbewaffnet war. Natürlich war es keine große Gefahr, in die der König sich damit begeben hatte. Wenn Romulus auch nur versuchte, handgreiflich zu werden, bliebe dem Mann genug Zeit, um die Wachen herbeizurufen, ganz zu schweigen davon, daß er durchaus imstande schien, sich seiner Haut in einem Kampf ohne Waffen zu erwehren. Dennoch, es war eine bewußte Geste, so wie die ganze Unterredung. Zu spät, viel zu spät, doch Romulus entschied sich jäh, so aufrichtig zu antworten, wie es ihm möglich war. Er wußte, daß dies das erste und letzte Gespräch war, das er je allein mit diesem Mann führen würde, ganz gleich, wie der bald anbrechende Tag endete.
»Geboren zu sein. Aber geht es uns nicht allen so, Herr? Liegt nicht die Art unseres Todes immer in unserer Geburt beschlossen? Nimm dich zum Beispiel. Du bist ein König, und es heißt, der Tod eines Königs sei der unausweichlichste von allen. Der König stirbt für das Volk.«
»Es ist ein altes Gesetz«, erwiderte Amulius. »Überholt, glauben manche. Ich selbst nicht, habe ich doch erlebt, welche Folgen es haben kann, wenn ein König nicht bereit ist, dieses Opfer zu bringen. Allerdings fragte ich mich damals, und ich frage mich auch heute, ob nicht das Leben für das Volk das größere, bessere Opfer ist. Dann wieder frage ich mich, ob es nicht eine Ausrede für mich selbst ist, um das alte Opfer nicht bringen zu müssen. Könntest du es?«
Der Horizont wurde heller, und Romulus wußte, daß es nur noch eine Frage der Zeit war, bis das erste Rot durch den vom See aufsteigenden Nebel brechen würde. Vielleicht war es auch nur eine Frage der Zeit, bis der Mann ihm gegenüber beschloß, sich seiner unauffällig zu entledigen, Aussprache hin, Gerichtstag her.
»Um für das Volk sterben zu können«, sagte er, »müßte ich erst ein König sein. Kein Schweinehirt und kein Räuber.«
Amulius ließ seine Arme wieder sinken, doch er wandte sich nicht ab. »Da du so vertraut mit alten Gesetzen scheinst, Schweinehirt, verrate mir, kennst du auch das des Stellvertreters?«
Obwohl sich Romulus um eine undurchdringliche Miene bemühte, runzelte sich seine Stirn. »Stellvertreter?« wiederholte er und fühlte sich zum ersten Mal, seit er Alba betreten hatte, jung und unwissend.
»Wird der König zu dringend gebraucht«, entgegnete Amulius gedehnt, »dann bringt ein Mitglied seiner Familie das Opfer. Es muß ein naher Blutsverwandter sein, der den Göttern anstelle des Königs gegeben wird, und der Mann, der das Opfer vollzieht, ist der König selbst.«
Das kann sie nicht geplant haben, dachte Romulus , als eine unsichtbare Faust seinen Atem zusammenpreßte . Nicht für diesen Kampf. Sie will Amulius tot sehen, nicht mich.
Die Helligkeit am Horizont genügte noch nicht, um ihn etwas anderes als dunkle Augenhöhlen erkennen zu lassen, als er Amulius ins Gesicht starrte. Dunkel und leer, wie die Augenhöhlen eines Totenschädels. Wie ihre. Wie meine.
» Ich«, sagte Amulius, »ich bin mit jeder Art von Opfern vertraut, die man den Göttern bringt. Bis hin zu den Grabspenden. So habe ich mein Haar geschnitten, wie man es bei uns tut, um es am Grab meines... nahen Blutsverwandten niederzulegen, wenn er ihn stirbt, den Opfertod. Für mich, für das Volk und für die Götter.«
Für Ulsna
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