Die Söhne der Wölfin
den Tod. Sie mochte Ilian, die bei allem Priesterinnengehabe immer die Zeit gefunden hatte, mit ihr über das neueste Gerede in der Stadt zu klatschen oder ihr alle möglichen Geschichten erzählt hatte, bei denen man nie sicher sein konnte, ob sie stimmten - was sie um so aufregender machte.
Wenn Ilian ein rachsüchtiger Geist war, dann konnte gewiß nur jemand wie Fasti sie bannen. Der dürren Novizin, die immer so mißbilligend dreinsah, traute Antho jedenfalls nichts zu, und daß diese Priesterin nichts von Ilians Anwesenheit bemerkte, erfüllte sie mit boshafter Befriedigung. Ratlos fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen und beschloß schließlich, abzuwarten, was Ilian tat. Auf jeden Fall hatte der Tag seine Langeweile verloren.
Als Ilian während der nächsten Stunde keine Anstalten machte, irgend etwas zu tun, fing Antho an, ungeduldig zu werden. Ilian konnte nicht einfach kommen und dann nichts in Bewegung setzten. Die verstörende Vorstellung tauchte in ihr auf, daß sich Ilian am Ende nur ihr altes Leben noch einmal hatte betrachten wollen und bald wieder ins Nichts der Verbannung verschwinden würde. Konnte es sein, daß sie sich so sehr schämte? Das paßte eigentlich nicht zu ihr.
Wenn Ilian nichts unternehmen wollte, dann lag es an ihr, Antho, zu handeln. Sie hatte bei der großen Verbannungszeremonie nicht anwesend sein dürfen, weil ihr Vater es ihr verboten hatte. Aber nun war er beschäftigt, zu beschäftigt mit seinem dummen Gerichtstag, um auf sie zu achten. Allerdings stand diese langweilige Priesterin gleich neben ihr. Antho grübelte über eine unauffällige Möglichkeit nach, sich unter die Menge zu mischen, bis ihr eine Erleuchtung kam. Sie räusperte sich. Die Priesterin warf ihr einen strengen Blick zu. Der Gegensatz zu Ilian, die sich an Gerichtstagen leise mit ihr unterhalten hatte, wurde immer deutlicher.
»Ich kann nicht länger bleiben«, flüsterte Antho. »Meine Blutungen haben eingesetzt, und bald wird man es sehen.« Entschuldigend fügte sie hinzu: »Ich dachte, es würde noch ein paar Tage dauern.«
Die Priesterin wirkte, als würde sie am liebsten eine Bemerkung darüber machen, daß Antho alt genug sei, um genau zu wissen, wann sie ihre Regel bekam, aber sie unterließ es und nickte nur.
Der Brauch verlangte, daß der König vor seinem Palast Gericht hielt, aber damit er nicht mit dem Rücken zu den Emblemen der Schutzgottheiten saß, die man vor dem Eingang aufgestellt hatte, und so Mißachtung gegenüber den Göttern zum Ausdruck brachte, stand sein erhöhter Stuhl auf der anderen Seite des Platzes. Am Ende des Gerichtstages, wenn sich der Platz geleert hatte, war man schnell wieder im Palast, aber Antho entdeckte, daß es selbst für die Tochter des Königs nicht leicht war, sich während dieses Ereignisses einen Weg durch die Menge zu bahnen. Ein paar Leute wichen vor ihr zurück, aber die überwiegende Mehrzahl drängte in Richtung ihres Vaters und machte keine Anstalten, für sie Platz zu schaffen. Manchmal zupfte man sie sogar am Ärmel, um sie anzubetteln. Als es zum fünften Mal geschah, murmelte sie ungeduldig: »Nicht jetzt«, ehe sie die Stimme erkannte und erstarrte.
Schräg an ihrer Seite kniete Ilian und murmelte: »Herrin, bitte, mein Mann arbeitet im Palast, aber sie wollen mich nicht zu ihm lassen, und ich habe den weiten Weg gemacht, um ihn zu sehen.«
»Aber natürlich«, entgegnete Antho, blinzelte und fühlte sich wieder wie ein Kind, das einen Streich ausheckte, »natürlich helfe ich dir, gute Frau. Komm mit mir.«
In dem dämmrigen, honigfarbenen Licht, das durch die Sonnensegel in Anthos Kammer fiel, sah Ilian fast wie früher aus, als sie sich des grobgewebten Tuchs entledigte, das sie als Umhang trug. Die Aufregung half Antho dabei, den unpassenden Aufzug und das Fehlen jeglicher annehmbarer Frisur zu übersehen, als sie ihre Base umarmte.
»Ich kann es nicht fassen, daß du hier bist! Hast du deinen Barbaren mitgebracht? Sind die wirklich so unermüdlich, wie immer behauptet wird? Wie...«
Sie spürte, wie Ilian in ihren Armen erstarrte und sich sanft, aber nachdrücklich löste.
»Antho«, murmelte Ilian mit der resignierenden Stimme, mit der sie früher über hoffnungslose Fälle unter den Sklavinnen gesprochen hatte, »du bist doch immer noch ein Kind.«
»Bin ich nicht«, entgegnete Antho beleidigt. »Ich bin bald alt genug, um verheiratet zu werden, aber wenn mein Vater seinen Willen bekommt und bei der alten Schachtel
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