Die Söhne der Wölfin
verdrängte es. Verdrängte es ebenso wie die Ahnung, die sie jedesmal plagte, wenn sie darüber nachgrübelte, warum Ilian wohl geglaubt hatte, ihr mit dem Namen des Vaters drohen zu können.
Die Hafenstädte der Rasna, dachte der Grieche Arion, ähnelten ihren Frauen. Als sein Schiff in Fregenae einlief, hatte er die schmucke, saubere Hafenanlage bewundert. Schwere phönizische Galeeren lagerten ruhig neben den kleineren, wendigen griechischen Schiffen, und dabei ließ sich wohl erkennen, daß man versuchte, verfeindete Parteien möglichst weit voneinander entfernt ankern zu lassen. Arion, der aus Korinth stammte, hatte deshalb auch eine beträchtliche Weile gebraucht, bis er herausfand, daß auch einer der verfluchten Händler aus Chalkis auf Euboia im Hafen war. Nicht, daß er die Absicht hatte, hier mit diesen Leuten einen Streit anzufangen. Er war auf das Wohlwollen der hiesigen Einwohner angewiesen, und derzeit erfüllte ihn diese Notwendigkeit mit tiefem Groll.
Ja, Fregenae hatte ihn zunächst beeindruckt, angefangen mit den Hafenmauern, die genau wie die Stadtmauern aus soliden, immensen Sandsteinblöcken bestanden, bis hin zu dem Tempel für Nethuns, wie sie Poseidon hier nannten, wo er sein Dankopfer für eine trotz schwerer Stürme lebend überstandene Reise gebracht und zu seiner Freude Zimmermeister und Weber gefunden hatte, um die Schäden an seiner Kassiopeia wieder richten zu lassen.
Erst danach hatte er die Wahrheit entdeckt, über Städte und Frauen der Rasna gleichermaßen. Zuerst hatte er sein Glück kaum fassen können; die Geschichten über die freizügigen Weiber der Rasna schienen alle wahr zu sein. Sie liefen in Scharen auf den Straßen herum, wie in seiner Heimat nur die Huren und Hetären, schauten fremden Männern ins Gesicht, statt auf den Boden zu blicken, und die rasche, zielstrebige Art ihrer Bewegungen eröffnete einem die schönsten Ausblicke. Dann kam die Ernüchterung, nicht nur für ihn, sondern auch für seine Mannschaft, von denen nur einer, der alte Laios, mit den Rasna überhaupt vertraut war. Die wenigsten dieser Frauen waren Huren, und sie waren noch freigiebiger mit Ohrfeigen als mit der Zurschaustellung ihrer Reize. Schlimmer noch, sie hatten empörte Väter, Brüder und Ehemänner, die später kamen, um sich zu beschweren, und das war noch der günstigste Ausgang. Arion war bereits selbst deswegen in eine Rauferei verwickelt gewesen und hatte bei zwei weiteren mit Leuten aus seiner Mannschaft eingreifen müssen.
Mit der schönen Stadt war es genauso. Sie gab sich wohl den Anschein, Fremde willkommen zu heißen, doch hinter der reizenden Fassade verbargen sich Händler, die nur darauf aus waren, einen hoffnungslos zu übervorteilen, und von einem Augenblick zum nächsten ihren griechischen Wortschatz verloren, wenn es um ihre Gegenleistungen ging. Händler, die einmal geschlossene Vereinbarungen einfach über den Haufen warfen, wenn es ihnen paßte. In seiner Heimat hätte Arion sie beim Stadtrat oder ihrer Zunft verklagen können, doch hier wußte er einfach nicht, an wen er sich wenden sollte, und Laios war ihm keine Hilfe. Der alte Mann hatte von Anfang an klargemacht, für wie töricht er das ganze Unternehmen hielt. Insgeheim ertappte sich Arion dabei, wie er anfing, ihm beizupflichten.
Arion war der jüngere Sohn, derjenige, von dem man erwartete, nach dem Tod des Vaters der starke rechte Arm seines älteren Bruders zu sein und sich im übrigen von dessen Weisheit leiten zu lassen. Statt dessen seinen Erbteil einzufordern und damit ein Schiff auszurüsten, um auf eigene Kosten und eigenen Gewinn zu handeln, hatte ihm bei der älteren Generation nur Mißbilligung eingebracht, und das nicht nur, weil es für sein Haus einen Rückschritt darstellte. Seine Familie gehörte seit dem Aufstieg des Großvaters zum Adel von Korinth; sie handelte nicht, sie ließ handeln, und wenn die Zeiten knapp waren, dann beteiligte man sich eben an einem Beutezug gegen Euboia. »Warum«, hatte Arions älterer Bruder erzürnt gefragt, »erkämpfst du dir nicht mit dem Schwert, was du brauchst? Das würde unsere Familie nicht entehren.«
Worauf dieser Vorwurf im Grunde hinauslief, war, daß Arion als Söldner oder Gefolgsmann eines der noch mächtigeren Adelsgeschlechter die Familie nichts kosten und ihr im Gegenteil selbst im Fall seines Todes zumindest Ehre einbringen würde. Doch so unternehmungslustig Arion von Natur aus war, er hatte von seinem Großvater auch den gesunden
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