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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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nach seiner Jungfräulichkeit gefragt hatte, existierte in ihm die Furcht, es würde eines Tages zu einer solchen oder ähnlichen Forderung kommen, doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, mußte er sich eingestehen, daß er geglaubt und vielleicht gar gehofft hatte, sie würde ihn auf ihr eigenes Lager befehlen. Er mochte die Herrin Nesmut nicht sonderlich, doch sie war trotz ihres erkennbaren Alters immer noch eine schöne Frau, und überdies hegte er die diffuse Überzeugung, eine Frau könne nicht gewalttätig sein. Die Aussicht, diesem finsteren Jungen übergeben zu werden, entsetzte ihn.
    Er wußte nicht, wie er es geschafft hatte, die Herrin Nesmut wieder zu verlassen, ohne durch sein offenkundiges Erschrecken ihren Zorn zu erregen. Als er erst wieder allein war, erbrach er sich im Schatten einer alten Palme und klammerte sich haltsuchend an den rissigen Stamm. Dann machte er sich auf die Suche nach Ilian.
    »Ich werde davonrennen«, sagte er zu ihr, als sie sich in einen der zahllosen Palasträume zurückgezogen hatten, und berichtete, was Nesmut ihm angekündigt hatte. »Meinetwegen wird sie gewiß keinen Suchtrupp losschicken, und selbst wenn sie es doch tun sollte, ich werde schon ein Schiff finden, das mich weit fort bringt von hier.«
    Ilians dunkle Augen gemahnten ihn an die reglosen Sphinxen, die er noch vor kurzer Zeit besingen hatte wollen. Es ließ sich alles und nichts aus ihnen herauslesen.
    »Wenn du jetzt fliehst«, erwiderte sie langsam, »dann wird sie einen Suchtrupp losschicken. Sie hat viel in diese Hochzeit gesteckt, und deine Flucht würde für sie einen Gesichtsverlust bedeuten, den sie sich ihrer Meinung nach jetzt nicht leisten kann. Stünden die Dinge anders und fühlte sie sich ihrer Sache sicher, dann wäre ihr deine Flucht gleich. Aber nicht jetzt.«
    »Sie kann nicht viel tun«, sagte Ulsna, »wenn ich mich auf einem abfahrenden Schiff verstecke. Meinetwegen wird niemand umkehren.«
    Ilian schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ulsna, das ist doch Unsinn. Wir hatten auf unseren Schiffsreisen bisher sehr, sehr viel Glück. Sollte es dir gelingen, dich an Bord eines Schiffes zu schleichen, dann wird kein Arion da sein, der dich anschließend beschützt, und die Hand des Orakels von Delphi schwebt dann auch nicht mehr über dir. Wenn du glaubst, daß ein Mann schlimm ist, stell dir lieber gleich ein Dutzend vor.«
    Er starrte auf seine Hände, seine langen, schmalgliedrigen Finger, die gemeinsam mit seiner Stimme das Beste an ihm waren und bisher alles überlebt hatten. Auf dem linken Handrücken befand sich eine zackenförmige Narbe, die eine Saite hinterlassen hatte, als er sie nicht richtig hatte spannen können und sie, scharf und schneidend, zurückgeschnellt war.
    »Warum sagst du nicht einfach die Wahrheit?« fragte er bitter. »Es würde deine Pläne stören, wenn ich Ärger verursachte. Vielleicht würde sie ihn sogar an dir auslassen. Du hast Angst um deine eigene Haut, die bisher, trotz all deines Geredes über Männer, die dich ausgenutzt haben, bemerkenswert unversehrt ist.«
    Sie erwiderte nichts, und das plötzliche Schweigen zwischen ihnen erinnerte ihn seltsamerweise an die Stille, die nach einem besonders gut vorgetragenen Lied einkehrte. Das Wissen, sie getroffen zu haben, erfüllte ihn mit dem gleichen befriedigenden Triumph, und doch wußte er in diesem Moment, daß er nicht fortlaufen würde, wenn es bedeutete, daß sie dafür bezahlen mußte. Als er wieder den Kopf hob, war sie verschwunden.

    Nesmut ließ sich mit dem mit Duftstoffen versetzten Öl, das der Haushofmeister heute erst für sie von einem Händler aus Babylon gekauft hatte, ihre müden Glieder einreiben. Seit die Hochzeit aus dem Bereich vager Pläne in den einer festen Abmachung gerückt war, gab es jeden Tag mehr zu tun, und es kam ihr so vor, als stünde sie den ganzen Tag auf den Beinen. Es war erholsam, sich endlich wieder ausstrecken und verwöhnen lassen zu können, auch wenn ihr unruhiger Geist es nicht zuließ, daß sie sich gänzlich entspannte. Zu viele Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf, wie die Stechmücken und Sumpffliegen, die das Deltaland im Frühjahr und Sommer plagten und in ihr immer aufs neue die Sehnsucht nach ihrer Heimat wachriefen.
    Als Ilian erschien und sie um eine Unterredung bat, machte sie sich nicht die Mühe, die Massage abzubrechen und sich zu erheben. Sie nickte nur zustimmend und fragte sich, ob sie ihrer so nützlichen Ausländerin auch noch das Massieren

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